Gründe für einen russischen Angriff (Schauungen & Prophezeiungen)

Bernhard_Berlin, Dienstag, 03.01.2012, 11:31 (vor 4498 Tagen) @ rauhnacht (6051 Aufrufe)

Guten Tag allerseits und ein frohes neues Jahr,

zu Deiner Frage bezüglich der Gründe für einen Russeneinmarsch kann ich, wie der Angelsachse sagen mag, einen "educated guess" abgeben, da ich zu diesem Thema für eine Hausarbeit im Studium recherchiert habe:

Spätestens seit 2002/03 fühlen sich einflussreiche Kreise in der russischen Staats- und Militärführung von den USA "auf den Schlips getreten", um es vorsichtig auszudrücken. Es gibt Strategiepapiere, die von einer geostrategischen "Einkreisung" Russlands durch die USA/NATO sprechen und den Westen offen als "Hauptfeind" Russlands bezeichnen. Demnach haben die USA/NATO ein Versprechen an Russland nach dem anderen gebrochen und die ausgestrechte Hand nach 9/11 brüsk zurückgewiesen: Brechen des Versprechens, die NATO nicht über Ostdeutschland hinaus auszudehnen 1999. Aufnahme früherer Sowjetrepubliken in NATO und EU (Estland, Lettland, Litauen). Errichtung von Basen in Zentralasien (Tadschikistan z.B.). Unterstützung von "antirussischen" Bewegungen in der Ukraine und Georgien ("orangene Revolution" etc). Schließlich die Errichtung amerikanischer Präsenzen in Afghanistan und Irak, was den russischen Einfluss in Nahost und aufs Ölgeschäft empfindlich beeinträchtigt. Schließlich der geplante US-Raketenschild.

Wenn Du Dich fragst, was das ganze 2008 in Georgien sollte, dann empfehle ich einen Blick auf eine Landkarte, in der Ölpipelines eingezeichnet sind: Wenn die USA Georgien (und Aserbaidschan) im Griff haben, können sie zentralasiatisches Öl und Gas unter Umgehung Russlands komfortabel abzapfen.

Ist das alles Grund für einen Krieg? Das mögen wir vielleicht nicht denken, aber entscheidend ist, was die russischen Eliten denken. Und die sind fuchsteufelswild. In offiziellen Stellungnahmen wird offen darüber schwadroniert, dass diese "Einkreisung" durch die USA "die Vernichtung Russlands" zum Ziel habe. Die NATO sei demzufolge "Hauptfeind". Regelmäßig werden Übungsmanöver vom russischen Militär durchgeführt, die einen Krieg gegen die NATO erproben. Und das sind nur die öffentlich zugänglichen Informationen.

Russlands letzte Verbündete im Nahen Osten sind Iran und Syrien. Wenn die beiden fallen, womöglich unter Mitwirkung der USA/NATO, dann könnte für die russischen Militärs der sprichwörtliche letzte Tropfen das Fass zum Überlaufen gebracht haben. Würde Russland das klaglos hinnehmen, dann wäre sein Selbstverständnis als Weltmacht nicht im Ansatz mehr aufrechtzuerhalten. Vielleicht setzen sich dann jene Kräfte durch, die einen "Befreiungsschlag" befürworten, um dem "westlichen Würgegriff" zu entkommen?

Natürlich müssten sie Grund zu der Annahme haben, damit erfolgreich sein zu können. Bis vor kurzem hätte ich das als unwahrscheinlich angesehen, weil der Westen zu stark ist. Wenn jedoch dank Wirtschaftskrise in Westeuropa Bürgerkrieg herrscht, totales Chaos, die EU auseinanderbricht und die USA mit sich selbst beschäftigt sind -- wer weiß, ob dann nicht jemand in Russland Morgenluft wittert?

Das ist natürlich nur mein Senf zu der Sache und ich könnte mich durchaus irren. Jedenfalls halte ich einen russischen Angriff nicht für so unwahrscheinlich, dass es absurd wäre, darüber nachzudenken. Im Gegenteil finde ich es eher verwunderlich, dass unsere Öffentlichkeit dieses Thema so wenig im Blick hat, gerade weil es absolut eine Möglichkeit ist (die routinemäßigen russischen Drohgebärden gegen den Westen laufen in den verschnarchten Medien ja bestenfalls unter "ferner liefen").

Beste Grüße,
Bernhard


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