Baldur streitet nicht gegen das Schicksal, sondern für einen flachen Begriff (Schauungen & Prophezeiungen)

RichardS, Montag, 23.12.2013, 17:04 (vor 3786 Tagen) @ Baldur (4842 Aufrufe)
bearbeitet von RichardS, Montag, 23.12.2013, 17:13

Hallo!

Zu Baldurs Frage "das Schicksal hinnehmen oder es herausfordern?":

Im Folgenden zeige ich, dass diese Frage in sich widersinnig ist und auf falschen Annahmen fußt.

Wichtiger (vor dem metaphysischen Hintergrund unserer Forumsdiskussionen) aber ist: Auch mit dieser Frage erweist sich Baldur viel zu sehr als Kind des heutigen materialistisch-technischen Denkens. Ein Denken, welches die Vorstellung, so etwas wie eine das Leben des einzelnen Menschen oder ganzer Völker beeinflussende Schicksalmacht könnte existieren und wirken, entweder schlicht verneint (und als finsteren, ewiggestrigen Aberglauben belächelt) oder "Schicksal" höchstens noch als verflachte, verhunzte, in ihrem urprünglichen Sinn längst um die Ecke gebrachte Idee anzuerkennen vermag.

Wie fügt Baldur sich hier ein? Nun, Eindeutigkeit ist Baldurs Sache nicht. Hält man sich an seine Ausgangsfrage, dann ist ihm die Vorstellung eines "Schicksals" schon mehr als nur eine schlechte Mär. Aber seine weiteren Gedanken zeigen, dass man sich da nie sicher sein kann, weil er in seinen Ausführungen hin und her und wieder zurückspringt wie es ihm gerade passt, er mal die Vorstellung eines "Schicksals" zu verneinen scheint

"Aber es zeigt meiner Ansicht nach zu Recht auf, dass es irgendwo einen Schlusspunkt finden muss mit der Ergebenheit in ein lediglich geglaubtes, konstruiertes System, für dessen Existenz keinerlei Beweis existiert (ich meine natürlich das Schicksal, die Vorsehung, das Karma, nicht etwa die staatliche Gesetzgebung der Fälle eins und vier)"

und mal auf Basis einer wie auch immer gearteten Vorstellung eines "Schicksals" argumentiert

"Durch die geburtsseitige, kollektive Zugehörigkeit zu einer grossen Gruppe (Einwohner, Staatsbürger, Rechtssubjekt) ergibt sich so etwas wie ein zugedachtes Schicksal, wenn man diesen Schicksalsbegriff entsprechend versteht. Hier sind wir zum entsprechenden Zeitpunkt hineingeboren, schwimmen im Schicksalsstrom mit."

Nimmt man dieses Verwirrspiel, das unsaubere Hin- und Her- und wieder Zurückspringen mal etwas beiseite und ihn sowohl in seiner Ausgangsfrage "das Schicksal hinnehmen oder es herausfordern?" als auch in der Intention zumindest der meisten seiner Gedanken ernst, neigt sich die Wagschale aber doch dahin, dass Baldur, der Ketzer, glaubt! Zumindest an etwas, was er selber für "Schicksal" hält. Andererseits stellt sich Baldur unter "Schicksal" nur etwas von begrenzter Mächtigkeit vor (andernfalls wäre seine als Frage formulierte Alternative von vornherein sinnlos). Baldur gehört also jener Abteilung modernen Denkens an, welches die Idee eines "Schicksals" noch nicht ganz beerdigt hat, aber gerade dabei ist, sie endgültig zu Grabe zu tragen. Und es ist eine besondere, seltene Spielart, wie er dies für sich geistig bewerkstelligt: Er tritt zum Kampf gegen das "Schicksal" an, hier wieder ganz Ketzer wie wir ihn kennen, um es zu besiegen (Stichworte: nicht "hinnehmen", sondern "herausfordern").

Leider erklärt Baldur weder sich noch uns, was er unter jenem von ihm zu bekämpfenden Wirkprinzip, welches er sich denkt, versteht. Dafür ist er nicht "Forscher" genug. Ohne zu wissen, was denn nun nach Baldur das Wesen des Schicksalhaften sein soll, ist die Reflexion der Frage, ob sich a) "Schicksal" "herausfordern" lässt, b) ein solches Unterfangen empfehlenswert ist, c) "hinnehmen" von "Schicksal" tatsächlich das alternative Handeln kennzeichnet, aber ein Ding der Unmöglichkeit. Folglich werden wir Baldurs Schicksalbegriff erst aus seinen vielen Beispielen, die er uns bietet, ermitteln müssen.

Bevor wir das tun, soll uns aber der Duden kurz und prägnant erzählen, was als Wissen über die Idee des Schicksals bis in unsere Tage herübergerettet ist:

"Schicksal

Bedeutungen
a.von einer höheren Macht über jemanden Verhängtes, ohne sichtliches menschliches Zutun sich Ereignendes, was jemandes Leben entscheidend bestimmt
b.höhere Macht, die in einer nicht zu beeinflussenden Weise das Leben bestimmt und lenkt

Synonyme zu Schicksal
Bestimmung, Fügung, höhere Gewalt, Los, Schicksalsfügung, Vorsehung; (gehoben) Destination, Geschick, Schickung; (bildungssprachlich) Fatum,

Tyche; (besonders Religion) Prädestination; (islamische Religion) Kismet"

http://www.duden.de/rechtschreibung/Schicksal

Belügt uns der Duden nicht, dann geht es beim "Schicksal" (bzw. den Ideen, die sich in den menschlichen Kulturen hierzu herausbildeten) um eine "höhere" Macht. Noch dazu um eine, auf die der Mensch keinen Einfluss hat! Die aber ihrerseits (den) Menschen bestimmen, lenken, beeinflussen soll - sogar entscheidend! Dass das für den modernen Menschen westlicher Prägung starker, unakzeptabler Tobak ist und ganz sicher auch dessen Gerechtigkeitsempfinden verletzt, versteht sich von selbst. Denkt und empfindet der doch genau andersherum; anerkennt tendentiell nichts und niemanden über sich (höchstens vielleicht Mitglieder seiner eigenen Gattung, Politiker, Finanzleute, Wirtschaftsführer, geniale Künstler, Forscher usw.) und lässt sich, aufgeklärt wie er inzwischen ist, darum auch eher Verantwortlichkeiten selbst für Dinge wie das Klima einreden statt sich erzählen, es gäbe sein eigenes irdisches Leben Berührendes, was nicht grundsätzlich von ihm den eigenen Zwecken gemäß sich umformen, verändern, beeinflussen und beherrschen ließe.

Vermutlich wird auch Baldur nicht behaupten wollen, dass eine "höhere Macht, die in einer nicht zu beeinflussenden Weise das Leben bestimmt und lenkt" (so eine der wertneutralen Begriffsdefinitionen des Dudens) sich "herausfordern" lässt; dass ein solches Unterfangen mehr Vernunft hätte als ein Kampf gegen Windmühlen. Warum er die Idee eines "Schicksals" dann aber nicht schlicht und einfach für Blödsinn erklärt (wie so viele andere) und das ganze metaphysische Gesumse damit doch zumindest theoretisch und mit einem einzigen Schlag ganz elegant vom Hals hätte, kann ich nicht sagen. Es sei denn, Baldur braucht einen auf (seine) Augenhöhe zurechtgestutzten Schicksalsbegriff, damit er - wie schon bei den Göttern - auch hier wieder einmal "höhere" Kräfte vor sich hat, mit denen sich ringen lässt.

Neben der begrenzten Mächtigkeit hat das "Schicksal", so wie Baldur es sich vorstellt, folgende weitere Eigenheiten:

Es ist in Baldurs Kopf durch und durch negativ besetzt. Alle seine Beispiele, die er für Schicksalhaftes (und doch Überwindbares) hält, zeigen ein immer Gleiches: dass, sobald ihm der Gedanke "Schicksal" in den Kopf schießt, er an Leid, den Betreffenden Schädigendes, an Not und Tod und ganz ganz viele andere schlimme Dinge denkt. Das macht zwar seine Aversion gegen ein bloßes "Hinnehmen" von "Schicksal" verständlich (in Baldurs Überlegungen wimmelt es nur so von Worten wie "sterben", "entkommen", "schlecht", "bedrohlich", "sich entziehen", "desertieren", "schicksalsergeben", "überleben" "erschossen", "niedergemetzelt", "getroffen", "untergehen", "Krankheit", "Überfall", "opfern", usw. usf.), seine Horrorbilder können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Idee des "Schicksals" selber eine derart einseitig negative Besetzung nicht beinhaltet. Ein paar Zitate aus der Geistesgeschichte sollen als Beleg hier genügen:

"Das menschliche Herz hat eine fatale Neigung, nur etwas Niederschmetterndes Schicksal zu nennen." (Albert Camus)

"Schmerz und Freude liegt in einer Schale; ihre Mischung ist der Menschen Los." (Johann Gottfried Seume)

"Das Schicksal nimmt nichts, was es nicht gegeben hat." (Lucius Annaeus Seneca)

"Die meisten Menschen machen sich selbst bloß durch übertriebene Forderungen an das Schicksal unzufrieden." (Wilhelm von Humboldt)

"Von allen Geschenken, die uns das Schicksal gewährt, gibt es kein größeres Gut als die Freundschaft - keinen größeren Reichtum, keine größere Freude." (Epikur von Samos)

Allein die Fülle der Zitate der hier genannten großen und noch größeren Denker zeigt, dass das Wort "Schicksal" einem Menschen nicht unbedingt gleich einen Schauer über den unbeugsamen Rücken jagen muss.

Es klingt in diesen Zitaten außerdem an, dass unsere Altvorderen unter Schicksal keineswegs nur einzelne, isolierte Ereignisse verstanden. Sondern ihre Idee von "Schicksal" mit dem ganzen Leben verknüpften, mit etwas das Leben von Anfang bis Ende Umspannenden, das gesamte Leben Begleitende und in Bahnen Lenkende. Zum Tod gehört die Geburt, zum Schmerz die Freude, zur Niederlage der Erfolg, usw. - und das Schicksal vollzieht sich in der Entwicklung, im Verlauf eines Lebens; eingebettet in das anderer. Meine Rede vom "Schicksalsstrom" in einem früheren Beitrag, die Baldur aufgreift, gerät ihm in seiner isolierten, einseitig negativ verzerrten Sicht dagegen zur bloßen Worthülse.

Man mag die Idee einer transzendenten Klammer des Lebens ja für lächerlich halten. Aber ohne eine solche ist nicht verstehbar, was der Begriff des "Schicksals" oder gar des "Schicksalsstroms" meint. An Baldurs Beispielen, die er für historische Beispiele der Überwindung von "Schicksal" versteht, wird Baldurs fehlendes Verständnis für diesen transzendenten Aspekt klar. Er führt reihenweise irgendwelche Konfliktsituationen, Interessensgegensätze und gesellschaftliche Machtkonstellationen mit Oben-Unten-Strukturen an - und spielt die alternativen Handlungsmöglichkeiten vorzugsweise der unterlegenen Partei gegen den Schicksalsbegriff aus. Aber nur weil ein Mensch sich zur Wehr setzt (warum und gegen welche irdische Macht auch immer), setzt er sich noch lange nicht gegen sein Schicksal zur Wehr - sondern eben immer noch "nur" gegen eben diese konkrete irdische Macht! Wie auch jede irdische Macht - aktuelle Beispiele kann sich jeder selber denken - ihrerseits einem Schicksal untergeordnet ist (sofern man dem klassischen Schicksalsbegriff folgen will). Nicht alles, was nach irdischen Maßstäben zu einem bestimmten Zeitpunkt "oben" ist, muss oben bleiben, und umgekehrt gilt dies auch für unterlegene Menschen und Mächte. Um auf Baldurs Denkebene zu bleiben: Die "Idee" des Schicksals bezieht sich nicht nur auf bedrohtes Leben, sondern auch auf die Bedrohenden und die vermeintlich oder wirklich Überlegenen. Die "Idee" des Schicksals sieht sich auch nicht darin erfüllt, dass Leben darniederliegt, unterdrückt, besiegt und vernichtet wird. Auch im sich Wehren, im vergeblichen wie im erfolgreichen, vollzieht sich Schicksal.

Baldurs Frage ist also gar keine, die sein Schicksal (oder das irgendeines anderen Menschen) in Frage stellen könnte:

"Ist es nun legitim, sich diesem zu entziehen? Durch Auswanderung, Flucht, desertieren, oder vergleichbare Handlungen? Ich habe mich entschieden und die Staatsangehörigkeit gewechselt. Ich habe auch erreichen können, keinen Wehr- oder Zivildienst ableisten zu müssen."

Jenseits aller Legitimität, die hier gar nicht interessiert: In den Handlungen und Entscheidungen (und den Konsequenzen, die sie zeitigen) vollzieht sich Baldurs Schicksals (unabhängig davon, dass er dies nicht dahingehend begreift).

Falls man mir nicht glaubt, überzeugt vielleicht ja folgendes kleine Zitat:

"Das Schicksal ereilt uns oft auf den Wegen, die man eingeschlagen hat, um ihm zu entgehen." (Jean de La Fontaine)

Wer mit diesem Gedanken etwas anfangen kann, wird auch verstehen, dass Baldurs Ausgangsfrage "das Schicksal hinnehmen oder es herausfordern?" Unsinn ist. Die Alternative - passiv sein versus aufbegehren - ist ein bloßes, irreales Konstrukt, mit dem sich Baldur nur selber das Leben schwer macht und das es im Begriff des Schicksals gar nicht gibt. Schicksal vollzieht sich im Handeln. Und ich denke, der folgende Satz trifft den Nagel auf den Kopf:

"Der Ziellose erleidet sein Schicksal - der Zielbewusste gestaltet es." (Immanuel Kant)

Niemand muss sich von Baldur einreden lassen, Schicksal anders zu verstehen.

Richard


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