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Nostradamus und Datierung (Schauungen & Prophezeiungen)

Taurec ⌂, München, Freitag, 17.08.2018, 18:36 (vor 2079 Tagen) @ Sagitta (4397 Aufrufe)

Hallo!

(sind ihm denn die Vierzeiler diktiert worden oder die Ereignisse ...?).

Eben. Die wahrscheinlicher Variante, wenn man "Diktieren" an sich als Möglichkeit heranzieht, wäre eine Durchgabe, die von Nostradamus selbst in Versform gebracht wurde.
Der Ausgangspunkt der Überlegung war, ob einige Kunstwörter, die in keiner Sprache einen Sinn ergeben, auf einem akkustischen Mißverständnis beruhen könnten (was natürlich als möglicherweise naive Grundannahme voraussetzt, daß die Durchgaben akkustisch erfolgten, nicht in Form eines inneren gedanklichen Dialogs).

Gegenüber Sohn Cäsar schrieb er: "Aber ich werde manches Mal die Woche von Entrückung überrascht und habe durch langwierige Berechnung, nächtliche Studien des süßlichen Geruchs abhaltend prophetische Bücher geschrieben, deren jedes hundert astronomische Prophezeiungsvierzeiler enthält."
Das gibt allerdings nicht viel her, außer daß er eine natürliche Sehergabe hatte und beim Schreiben mit Raucherwaren nachgeholfen hat.

Die in den Vierzeilern berichteten Details sprechen sehr für eine optische Wahrnehmung, die hernach ins Gedächtnis des Herrn Nostradamus übergehen konnte (ist nicht bei allen Schauungen so und nicht immer realistisch präzise, wie wir wissen ...).

Wir wir ebenso wissen, schließen optische/akkustische Sinnesreize in gesehenen Szenen die gleichzeitige Übermittlung erklärender Wortbotschaften (siehe Johansson) nicht aus.

Dass Nostradamus Schauungen gehabt hat ist für mich zweifelsfrei (dafür spricht auch die Anekdote, in der erzählt wird, wie er, befragt nach der Zukunft, einen der Söhne der Katharina de Medici sehr lange 'angestarrt' habe).

Davon gehe ich ebenfalls aus.

Ein Problem stellt für mich nur dar, wie er die geschauten Puzzleteile in einen kohärenten Geschichtszusammenhang, mithin in eine Gesamtschau bringen und überhaupt zeitlich einordnen konnte. Woher weiß er, dass CHYREN (den er vielleicht mit Krawatte oder Bluejeans geschaut hat) zeitlich nach Napoleon (im Krönungsmantel oder Feldherrnrock) kommen würde?

Den zeitlichen Zusammenhang seines Geschichtsbildes halte ich nicht für gesehen, sondern konstruiert.
Darüber hinaus hat er nicht sämtliche Inhalte der Centurien gesehen. Vieles ist angelesen.
So dürfte die wesentliche gedankliche Grundlage Chyrens der Mythos des Endzeitkaisers bzw. des großen Monarchen sein. Die islamische Invasion geht höchstwahrscheinlich auf das Konto der Prophezeiung des Pseuso-Methodius, die im Mittelalter mindestenns ebenso in aller Munde war wie Nostradamus heute.

Oben verlinkte Pseudo-Methodius-Übersetzung beruht auf dem syrischen Original, das im europäischen Mittelalter nicht bekannt war. Es kursierten nur lateinische Übersetzungen, und zwar mindestens eine Langfassung und noch viel mehr Kurzfassungen.
Ich bin noch auf der Suche nach lateinischen Pseudo-Methodiusversionen, die Nostradamus höchstwahrscheinlich kannte, so daß man den direkten Vergleich anstellen kann.

Die Frage, die sich womöglich nicht vollständig klären läßt: Gehen sämtliche Aussagen des Nostradamus zu Chyren und der Islaminvasion auf christliche Endzeitprophetie zurück oder flossen darin vielleicht echte Schauungen des gegenwärtigen Eindringens des Islams in Europa, künftiger Bürgerkriege und eines europäischen Imperators ein? Nostradamus Aussagen gehen weit über Pseudo-Methodius hinaus, so daß ich die letztere Variante favorisiere.

Da Nostradamus die Endzeitprophetie als Grundgerüst der Geschichte heranzog, dürfte er allein daraus geschlossen haben, daß Chyren und diverse heutige gesellschaftliche Verfallserscheinungen (Republiken, Demokratien, Revolutionen, die USA scheinen bei ihm stets in Verbindung mit dem Antichristen zu stehen) nach Napoleon liegen müssen, während Chyren einen Höhepunkt, wenn nicht gar den dramatischen Höhepunkt seines ganzen Szenarios darstellt.

Ohne triftige Gegenargumente (die ich hier wenigstens noch nicht gehört habe) würde ich annehmen wollen, dass er unter anderem auch mit Hilfe von Gestirnsständen zeitliche Datierungen vorgenommen hat. Aus denen lassen sich aber geschichtliche Zusammenhänge nicht direkt erkennen (etwa die Abfolge von Dynastien und Regierungen oder von funktionalen historischen Zusammenhängen).

Seine Berechnungen zum Schöpfungsdatum (mit vier verschiedenen Ergebnissen) waren sicher eine Grundlage.
Dann kommt Pseudo-Methodius, bei dem die Islaminvasion im siebten Jahrtausend stattfindet: "Denn in diesem letzten Millennium, das das siebente ist, in ihm wird das Königreich der Perser ausgerottet werden und in ihm werden die Söhne Ismaels aus der Wüste von Yatreb ziehen und kommen und sich alle dort in Gaba’öt Rämtä versammeln." (Ismael gilt als Stammvater der Araber.)

Das siebte Jahrtausend spielt auch bei Nostradamus eine Rolle. Seine Prophezeiungen datiert er im Brief an Heinrich II: "Es beginnt in der Gegenwart, nämlich dem 14. März 1557, und reicht weit darüber hinaus bis zu dem Ereignis, das nach gründlicher Abschätzung nach Anbruch des 7. Jahrtausends eintreten wird. So weit, wenn die Gegner Jesu Christi und seiner Kirche beginnen sich stark auszubreiten, erstrecken sich meine astronomische Berechnung und anderes Wissen kaum."

Drei seiner Berechnungen für den Beginn des 7. Jahrtausends lagen noch in seiner Zukunft:

  • 1827 n. Chr.
  • 1908 n. Chr.
  • 2033 n. Chr.

In dieser Epoche, was mit der realen Geschichte immerhin korreliert, breiten sich die antichristlichen Kräfte aus, am Ende steht Chyren und stellt die christliche Herrschaft wieder her.
Der genauen Datierung war er sich offenbar schon gar nicht mehr sicher, sofern er sein Licht gegenüber Heinrich II. nicht unter den Scheffel gestellt hat.

Da er offenbar kein sehr kompetenter Astrologe war und womöglich methodische Fehler machte, unzureichende Ephemeriden hatte etc., würde ich auf seine Berechnungen künftiger Gestirnsstände nicht allzu viel geben.
Wenn man die Berechnungen zweifelsfrei identifizieren könnte, müßte man zunächst Kenntnis über die Art seiner Fehler erlangen, um die Abweichungen quantifizieren zu können. Erst dann ließe sich womöglich in groben Zügen eruieren, in welchen zeitlichen Zusammenhang er Ereignisse setzte.

Zu den möglichen Optionen von @Pferdchen, warum Nostradamus sich dieser gewaltigen Mühe an Schauung, Deutung und Chiffrierung unterzogen hat, würde ich hinzufügen, dass er ein Experiment mit der Zeit machen wollte. Irgendwann, so behauptet er ja, wird man erkennen, was er damals schon (bis ins kleinste Detail) 'schaute' - und das wirft spätestens dann die Frage auf, was "die Zeit" eigentlich wäre. Ob also auf einer anderen Ebene oder einer anderen Art des SEINS, die Vergangenheit und die Zukunft (und zwar vollständig sowie komplett determiniert ...) zeitlos vorhanden sind - und von hier aus dort 'geschaut' werden können.

Das wäre letztlich kein eigenes Experiment, sondern ein Problem, das jeder Seher aufwirft.

Gruß
Taurec


„Es lebe unser heiliges Deutschland!“

„Was auch draus werde – steh zu deinem Volk! Es ist dein angeborner Platz.“


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