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Fragenbeantwortungen (Schauungen & Prophezeiungen)

Taurec ⌂, München, Donnerstag, 16.08.2018, 20:42 (vor 2051 Tagen) @ Bubo (4438 Aufrufe)
bearbeitet von Taurec, Donnerstag, 16.08.2018, 21:04

Hallo!

1. Welche Zielsetzung(en) habt Ihr euch dabei gestellt, bzw. was soll erreicht werden?

Anlaß war mein jahrelanges wiederholtes und letztlich erfolgreiches Bohren, BBouvier möge doch mal seinen alten Nostradamus zu überarbeiten, nachdem mit dem Internet neue Recherchemöglichkeiten gegeben sind und bisweilen die Veralterung mancher Übersetzungen/Interpretationen auffällt.
Außerdem lag 1996 noch kein Zugang zu Faksimiles der Erstdrucke vor. Als Konsequenz finden sich im zugrundeliegenden französischen Text "Verschlimmbesserungen" und Abschreibefehler des Originals, die sich seit Jahrhunderten durchziehen.

Zielsetzung war folglich, eine möglichst gute/korrekte Übersetzung des Originals abzuliefern und die mutmaßlichen Bedeutungen herauszuarbeiten, wobei es nicht nur um das Knacken von Versen ging, sondern auch darum, die zahlreichen Rätsel, mythologischen, historischen, religiösen, astrologischen Bezüge usw. zu lösen (bisweilen auch mit verschiedenen Alternativen), und zwar auch bei nicht geknackten Versen.

Die Stärke des Buches dürfte einerseits das Lösen von Vierzeilern mit historischem Detailwissen (z. B. die Erspießung Wallensteins im Schlafzimmer in III/30 oder die Enthauptung Ludwigs XVI. in I/57) sein, das man nicht in jedem Lexikon findet, andererseits die vielen sprachlichen (insbesondere mittelfranzösischen) und kulturellen, mythologischen etc. Hinweise, die späteren Interpreten (die vielleicht kein Internet mehr haben) die entscheidenden Informationen zum Lösen der Verse bieten könnten.

Falls Du eine Arbeitshypothese oder "fixe Idee" vermutest, die wir systematisch in den Nostradamus hineingelesen hätten (wie es bei Autoren vorkommt, die meinen, den Stein der Weisen gefunden zu haben), so lag eine solche in unserem Falle nicht vor – wohl aber einige Annahmen und Erkenntnisse, die sich im Laufe des Übersetzens herausgebildet haben.

2. Wie ist/war der Ablauf der Vorgehensweise bis jetzt?

Unspektakulär: Mehrere Stunden Übersetzung und Interpretation pro Tag über ca. drei Jahre, maximal drei Vierzeiler (dann war die Luft raus), wobei Übersetzung und anschließende Interpretation von massiver Netzrecherche und Literaturkonsulation begleitet waren. Darüber hinaus Ablgeich mit der bisherigen Übersetzung, gegebenenfalls Herstellung von Querverweisen und Angleichung der Übersetzungen/Interpretationen.
Anschließend: Übersetzung der beiden Prosatexte an Sohn Cäsar und Heinrich II. (die hatte BB beim ersten mal wohl aus Faulheit ausgespart :lol2: ), wobei wir hier etwas freier vorgingen und bemüht waren, einen lesbaren Text herzustellen. Die Prosa besteht aus überlangen Monster- und Schachtelsätzen, ist eigentlich kaum lesbar. Wir haben sie daher in Sinnzusammenhänge/kleinere Sätze unterteilt und uns bisweilen (anders als in den Vierzeilern) vom Wortwörtlichen getrennt und interpretativ übersetzt, wobei ich selbst nachträglich nochmal drüber bin, um den Text zu glätten und Fußnoten beizufügen, was lange genug gedauert hat. Die Prosa wäre eigentlich einer gesonderten Untersuchung wert, da sie wohl die Schubladen zur Verfügung stellt, in welche die Vierzeiler einzusortieren sind.
Laufend: Nachdem ich den Fußnotenapparat in den Centurien hergestellt habe folgt die Umwandlung der Rohfassung in Fließtext bei kritischer Überprüfung, ob das Ergebnis paßt, und gegebenenfalls Nachbesserung.

3. Was dürfte Eurer Vermutung nach die Zielsetzung des Nostradamus gewesen sein?

Mir scheint, daß es ihm mitnichten allein darum ging, die Zukunft vorauszusagen (das wäre aus seiner Sicht womöglich gar ein niederer Grund gewesen). Vielmehr scheint er ein Gesamtbild des Weltenlaufs abzugeben gewollt zu haben. So finden sich bei ihm Vierzeiler, die offensichtlich Geschichte vor seiner Zeit beschreiben, dann solche, die offenbar gar keinen historischen Bezug haben, sondern spirituelle Aussagen treffen.
Sein Ablauf orientiert sich offensichtlich an der christlichen Endzeitprophetie (Offenbarung, Methodius u. a.), die einen Teil des "Grundgerüsts" darstellt und einen "Höhepunkt" des Geschehens.

4. Wie groß ist die Gefahr von Übermittlungsfehlern (bspw. falsche Buchstaben, fiel mir spontan bei einem kürzlich veröffentlichten Begriff ein)?

Da ich sämtliche Originaltexte mindestens zweimal überprüft habe, dürfte es eigentlich keine Übermittlungsfehler mehr geben, wenngleich man auch durchaus zweimal etwas übersehen kann.

5. Wurde schon einmal versucht, einen Abgleich mit chiffrierten Schriften, die im zeitlichen Zusammenhang mit Nostradamus von großer Bedeutung gewesen sein dürften, zu starten?

Die Fragen, die sich hierzu ergeben:
1. Welche "in zeitlichem Zusammenhang stehenden Schriften" wären das?
2. Auf welche Art chiffriert?
3. Welche Implikationen sollen sich daraus für Nostradamus ergeben?

Den vielgesuchten "Schlüssel des Nostradamus", der alle Vierzeiler plötzlich klar erscheinen ließe, gibt es unseres Erachtens nicht.
Schon die Vermutung einer solchen Klarheit kann nur von jemandem kommen, der von Schauungen und deren Natur eigentlich gar keine Ahnung hat und deshalb auf präzise Voraussagen aus ist. Das Phänomen Schauungen gibt eine Datierbarkeit, geschweige denn eine ganze Chronologie einfach nicht her.
Gleichwohl scheint Nostradamus in einzelnen Fällen, die sich an einer Hand abzählen lassen, Jahreszahlen gekannt zu haben. Zudem unterstelle ich, daß er eine abstrakt konzipierte Chronologie (z. B. 7.000 Jahre von der Schöpfung bis zum jüngsten Gericht) hatte, in die er eigene Schauungen und sonstige, angelesene Ideen einsortierte. Sie dürfte sich aber nicht mit einem Schlüssel rekonstruieren lassen, sondern eher dadurch, daß man seinen gelehrten Wissensstand erreicht und die Vierzeiler eigenhändig in Ordnung bringt.

Die Verse sind nicht systematisch, sondern intuitiv für sich verschlüsselt durch Verwendung von Fremdsprachen, Bedeutungsverschiebung, sprachlicher Versimplifizierung, Kunstwörter, Allegorien etc.

6. Sind die Verse eigentlich chronologisch aneinandergereiht? D.h. entspricht eine Centurie einem Jahrhundert und ein Vierzeiler somit jeweils einem Jahr ab Veröffentlichungsdatum? Oder ist das alles Kraut und Rüben?

Nein, die Vierzeiler sind wild durcheinandergewürfelt, wenngleich es offensichtlich "Verklumpungen" gibt von Vierzeilern, die thematisch und bisweilen auch zeitlich zusammengehören und unmittelbar hintereinander stehen oder nur durch wenige Vierzeiler getrennt. Der Grund hierfür? Unklar. Vermutlich war Irreführung ein Hintergedanke, da manche oberflächlich zueinander passende Vierzeiler bei näherer Betrachtung verschiedenes beschreiben.

7. Konnte Nostradamus eigentlich deutsch? So manches Quatrain enthält irgendwie deutsch anmutende Wörter.

Nicht, daß wir wüßten. Das hinderte ihn aber nicht daran, sich bei allen erdenklichen Sprachen einzelner Wörter zu bedienen.
Auch Englisch kommt vor, z. B. "north" in II/17.

8. Hat Nostradamus die Dinge visionenartig selber vor seinem geistigen Auge gesehen, also wie ein richtiger (Hell-)Seher? Oder hat er die Ereignisse vielmehr gelesen und interpretiert, sei es aus den Sternen, sei es aus dem Vogelflug, aus Tiereingeweiden oder aus dem Gummibärchenorakel, war also im Prinzip nur ein Astrologe/Wahrsager/Augur aber eben kein Seher?

Der Beginn der Centurien knüpft an die Praxis des antiken Orakels von Delphi an. Ich vermute allerdings, daß dies nur der kulturellen/mythologischen Anknüpfung an berühmte Prophetentraditionen wegen erfolgte (Selbstlegitimation). Seine Informationen muß er nicht zwingend auf diesem Wege (Berauschung mit Dämpfen, in einen Kessel blickend usw.) erhalten haben. Wie er sie bekamm ist indes nicht völlig nachvollziehbar.
Eine derartige Fülle eigener Schauungen ist nicht anzunehmen; daß er selbst grunsätzlich etwas sah, indes schon. Einige Verse beschreiben mit hoher Wahrscheinlichkeit zukünftiges. Was BB und ich bislang noch nicht abschließend eruieren konnten: Sah er selbst oder wurde ihm (wie Lorber und anderen) aus dem Jenseits diktiert? Falls diktiert wurde: Fand dies bereits in Gedichtform statt oder hat er selbst die Durchgaben in Versform umgewandelt.
Neben eigenen Schauungen ist in hohem Maße angelesenes Wissen und kulturell begründete/religiöse Vorstellungen eingeflossen. Die Centurien sind nicht durgängig Schauungen, sondern repräsentieren Nostradamus' Weltbild an sich.

9. Ich habe festgestellt, dass französisches Original leider nicht gleich französisches Original ist. Welche Edition ist denn nun die richtige?

Unser Text beruht auf der ersten Gesamtausgabe von 1568 (die in allen Drucken mit nur minimalen Abweichungen identisch ist). Diese erschien zwei Jahre nach Nostradamus' Tod bei einem befreundeten Drucker und war noch von ihm redigiert/autorisiert. Sie ist die erste vollständige (bis auf die unvollendete 7. Centurie) und wohl auch die richtige. Sofern in früheren Ausgaben abweichende Textfassungen vorliegen, haben wir diese in Fußnoten angegeben, sofern sich aus ihnen abweichende Übersetzungsmöglichkeiten ergeben. Ausgaben nach 1568 haben wir nicht beachtet, da ab hier die Verfälschungsgeschichte anzusetzen ist. Ausnahmen bilden einzelne spätere Ausgaben, die einige zusätzliche Vierzeiler der unvollständigen 7., einer 11. und 12. sowie (vermutlich aber gefälschte) Sechszeiler enthalten. Der Vollständigkeit halber haben wir diese Zusatzverse (bis auf die Sechszeiler) auch übersetzt. :-D

Hier noch ein Überblick über die Erstausgaben (steht auch so im Buch):

  • Centurien I bis III, Centurie IV bis IV/53, Vorrede an den Sohn César
    • Erschienen am 4. Mai 1555 bei Macé Bonhomme zu Lyon, heute in der Médiathèque Pierre-Amalric zu Albi aufbewahrt.
    • Erschienen am 4. Mai 1555 bei Macé Bonhomme zu Lyon, heute in der Nationalbibliothek zu Wien aufbewahrt. Die Ausgabe entspricht bis auf geringfügige Unterschiede der Ausgabe Albi 1555.
  • Centurien I bis VI (ohne Bannvers), Centurie VII bis VII/40, Vorrede an den Sohn César
    • Erschienen am 1. November 1557 bei Antoine du Rosne zu Lyon, die Ausgabe wurde früher in der Széchényi-Nationalbibliothek zu Budapest aufbewahrt und befindet sich heute in der Russischen Staatsbibliothek zu Moskau.
  • Centurien I bis VI (mit Bannvers), Centurie VII bis VII/42, Vorrede an den Sohn César
    • Erschienen am 6. September 1557 bei Antoine du Rosne zu Lyon, heute in der Universitätsbibliothek zu Utrecht aufbewahrt.
  • Centurien I bis VI (mit Bannvers), Centurie VII bis VII/42, Centurien VIII bis X, Vorrede an den Sohn César, Brief an König Heinrich II.
    • Die erste Gesamtausgabe der Centurien erschien 1568 bei Benoist Rigaud zu Lyon. Diese Ausgabe wurde für das Buch durchgehend als Grundlage verwendet, mit Ausnahme der zusätzlichen Verse, die erst Jahrzehnte nach dem Tod des Nostradamus veröffentlicht wurden.
      Obwohl erst nach dem Tode des Sehers erschienen, kann diese Ausgabe als authentisch betrachtet werden. Benoist Rigaud lernte Nostradamus im Jahre 1557 in Lyon kennen, als dieser angelegentlich einer Epidemie dort anwesend war. Er druckte seine Ausgabe im Auftrage des Antoine Crespin Nostradamus, eines Sohnes des Sehers.
  • +VII/73, +VII/80, +VII/82, +VII/83, +VIII/1, +VIII/2, +VIII/3, +VIII/4, +VIII/5, +VIII/6
    • „Les Prophéties de M. Michel Nostradamus“, erschienen bei Pierre Ménier zu Paris 1589.
  • +VI/100, +XI/91, +XI/97, +XII/4, +XII/24, +XII/36, +XII/52, +XII/55, +XII/56, +XII/59, +XII/62, +XII/65, +XII/69, +XII/71
    • In der Regel wird in der Literatur angegeben, diese Verse wären zum ersten Mal 1605 von Nostradamus‘ Enkel Vincent Seve in seiner Ausgabe der Centurien erschienen, betitelt „Les Prophéties de M. Michel Nostradamus“ (gedruckt von Pierre du Ruau zu Troyes). Tatsächlich wurden sie bereits 1594 von Jean-Aimé de Chavigny, dem Schüler des Nostradamus, in dem Buch „La première Face du Ianus François“ veröffentlicht. Die Texte wurden dieser letztgenannten Ausgabe entnommen, sind aber bis auf geringfügige Abweichungen in beiden Veröffentlichungen identisch.
  • Zusätzlicher Vierzeiler der 10. Centurie (+X/100)
    • Es findet sich bei Seve 1605 ein nicht numerierter Vers mit der Überschrift „Adiouſté depuis l impreſſion. de 1568.“ („dem Druck von 1568 hinzugefügt“) im Anschluß an die zehnte Centurie, der in der Literatur gelegentlich als Doppel des Verses X/100 geführt wird.
  • 58 Sechszeiler
    • Darüber hinaus wurden von Seve erstmals die 58 Sechszeiler veröffentlicht. Über ihre Echtheit bestehen große Zweifel. Daher wurden sie in unser Buch nicht aufgenommen.
  • +VII/42, +VII/43
    • Unter dem Titel „Les Prophéties de M. Michel Nostradamus, Medicin du Roy Charles IX. & l’un des plus excellens Astronomes qui furent iamai“ erschien eine Gesamtausgabe, in der die siebte Centurie zwei Verse mehr als üblich aufweist, die zwischen die Nummern 41 und 42 geschoben wurden. Der Druck nennt das Jahr 1568. Tatsächlich kann er nicht vor 1649 erschienen sein.

Gruß
Taurec


„Es lebe unser heiliges Deutschland!“

„Was auch draus werde – steh zu deinem Volk! Es ist dein angeborner Platz.“


Gesamter Strang: