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Ulrich ⌂, München-Pasing, Dienstag, 14.03.2017, 04:31 (vor 2562 Tagen) @ randomizer (5452 Aufrufe)
bearbeitet von Ulrich, Dienstag, 14.03.2017, 04:42

Hallo randomizer,

Dabei bin ich grundsätzlich ja sogar offen für Kritik an Rill und den Feldpostbriefen ...

Warum sollte man beide Feldpostbriefe in einen Topf werfen, was deren Glaubwürdigkeit = Authentizität angeht ?

Die von Bender veranlasste Untersuchung wird üblicherweise als Beleg angeführt, die Feldpostbriefe seien echt, d.h. 1914 verfasst - beide.

Bender berichtete jedoch, daß sich das Gutachten nur auf den ersten Brief bezog (Bender: "Zukunftsvisionen, Kriegsprophezeiungen, Sterbeerlebnisse", S. 73).

Was Bender "Gutachten" eines "Spezialisten" nennt, erscheint mir dünn, falls es technisch über die 16 Textzeilen "3. Kriminaltechnische Untersuchung des 1. Briefes" nicht hinausging, und über das Kriterium der "Kreuzungsstellen der Bleistiftstriche mit den das Papierblatt durchquerenden Faltfurchen" würde jeder Forensiker wohl nur müde lächeln, lässt sich damit doch bestenfalls ermitteln, ob ein bereits vorher einmal gefaltetes oder ein vorher noch nie gefaltetes Blatt beschrieben wurde. Wen, zum Geier, sollte das interessieren ?

Was spricht gegen die These, daß der erste Brief authentisch ist, 1914 geschrieben, der zweite jedoch 1945/46 „in bester Absicht“, aber mit 30 Jahren Abstand, verfasst wurde ?

Über den ersten Brief berichtet Bender, er sei Rills Hausarzt Dr. Arnold bereits "vor dem Zweiten Weltkrieg bekannt" gewesen und "1941 herausgesucht und ihm übergeben" worden (S.72).
Anders jedoch kam, "... der zweite Brief - so berichtet P. Renner - erst 1945/46 in die Hände von Dr. Arnold und damit auch zu seiner Kenntnis." (S.64)

Wie darf man das verstehen ?
War es der Inhalt des zweiten Briefes, der erst 1945/46 durch dessen Aushändigung "zu seiner Kenntnis" kam, oder die Existenz dieses zweiten Briefes ?

Die Textstelle, die Rill laut Benders Befragung der Familienangehörigen bereits "vor der Nazizeit" öffentlich zitierte und ca. 1936 zu einer Befragung durch zwei Kriminalbeamte führte, ist jedenfalls dem Inhalt des ersten Briefes entnommen.

Nebenbei:
Falls es sich in der Quellensammlung um Bilder der Originalbriefe handelt, nicht um Bilder derer Abschriften, warum ist nur der erste Brief zweimal, horizontal und vertikal zu Brief-Format gefaltet, der zweite Brief offensichtlich nur einmal horizontal ?
Wurde die Feldpost zwischen dem 24. und 30. August 1914 von DIN A6 auf DIN A5 umgestellt ? :rotfl:

Zur m.E. unterschiedlichen Charakteristik der Texte:
Der erste Brief umfasst einen Zeitraum von (mindestens) 35 Jahren, eine Fülle von prognostizierten Ereignissen / Zeitabschnitten, aber offensichtlich "nur" zwei (nach meiner Lesart drei!) Elemente aus der Prophezeiungs-"Folklore":
Den "Antichristen" und die "Papstflucht" nach Köln (ohne Kaiserkrönung).
Im ersten Brief kein Wort von "Weltgeschehen". Das im zweiten Brief als "Drittes Weltgeschehen" farbig ausgemalte Ereignis wird nur als Einschub erwähnt mit dem Satz "Am Schluss kommt noch Russland und fällt über Deutschland her, wird aber zurück geschlagen weil die Natur eingreift...", als undatiertes Anhängsel der mit Jahreszahlen versehenen prophezeiten Ereignisse, aber vor dem abschließendem "Und im Jahre 49 kommt erst der Aufstieg. Dann kommen gute Zeiten."

Ganz anders der zweite Brief, der sich nur auf den Zeitraum 1945 bis 1949 bezieht, die neue Redewendung "Zweites Weltgeschehen" und "Drittes Weltgeschehen" einführt, und letzteres zeitlich und thematisch von ersterem abgrenzt, statt es wie im ersten Brief "am Schluss" anzuhängen.

Die genannten geschichtlichen Ereignisse sind entweder so dargestellt, wie sie 1945/46 als Momentaufnahme erscheinen ("Der Mann und das Zeichen verschwinden, und es weiß niemand wohin..." https://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article154864643/Warum-Hitler-und-Eva-Braun-zehn-Mal-begraben-wurden.html ) oder extrapolieren die Situation 1945/46 in die jeweils zu erwartende Entwicklungsrichtung: "Die Besatzungen lösen sich voneinander und ziehen ab mit der Beute des Geraubten..." Wann hätten das verbündete Siegermächte jemals nicht getan? "Die Not wird noch viel größer und fordert viele Opfer." Binse: Nicht von ungefähr pflegt man die Zeit nach einem Kriege "Nachkriegszeit" zu nennen...
Dann wären da noch unverständliche, weil unverstandene Geheimnisträger-Rätselsprüche, die sich lesen wie nach 30 Jahren aus der Erinnerung gekramt und Gemeinplätze, daß früher alles besser war, und zu guter Letzt müssen auch noch Ludovico Roccos auf Russlands Straßen nicht weggeräumte Leichen dazu herhalten, um die vier Seiten zu füllen.

Ich halte den ersten Brief für authentisch, rechne jedoch den Satz "Am Schluss kommt noch Russland und fällt über Deutschland her, wird aber zurück geschlagen weil die Natur eingreift..." wie den "Antichristen" und die "Papstflucht" als weiteres, drittes Textelement der wiedergekäuten Prophezeiungstradition zu, um das ansonsten erstaunlich zutreffende historische Geschehen in einen christlich-heilsgeschichtlichen Rahmen einzubetten.

Im zweibändigen "Voix prophetiques", worauf Du bereits hier https://schauungen.de/forum/index.php?id=16234 hingewiesen hattest, ist eben auch die Prophezeiung zu finden "L’empereur de Russie à la tête d’une grande armée, viendra jusqu’au Rhin, qu’il ne passera pas, parce que là une main invisible l’arrêtera. Il verra le doigt de Dieu." (Abt Mattay, 1751-1820, Pfarrer von Saint-Meen in der Bretagne).

Soll heißen: Wer hellsichtig einen Zeitraum von 35 Jahren voller dramatischer Ereignisse überschaut, neigt als überzeugter Chiliast/Milleniarist in der Bewertung des Gesehenen leicht dazu, übers Ziel hinaus zu schießen und die dramatische Entwicklung mit den Zutaten Antichrist, Theaterdonner der Natur und dem obligatorischen Hauen und Stechen von Gog und Magog zu garnieren.
Ich will Rill keineswegs eine Fälschung unterstellen: Wer 1945/46 in Rills Situation rückblickend die prophezeiten Ereignisse mit der realen Entwicklung abgeglichen hat, dem kann man kaum vorwerfen, daß er sich unmittelbar vor "am Schluss kommt noch Russland und fällt über Deutschland her" stehend wähnt, bevor er dann "im Jahre 49" den "Aufstieg" erwartet.

Warum sollte er sich - nach einer abschließenden Neubewertung - nicht für die elegante Lösung eines zweiten Briefes entschließen in der Absicht, den ausstehenden Rest des ersten Briefes einem weitest möglichen Kreis bekannt zu machen ?

Mit einem Brief, der ausschließlich auf das ausstehende "Und am Schluss..." fokussiert ist, das ja nun fällig wäre, und als Legitimation eine (nur eine einzige!) genaue Jahreszahl nennt, nicht im Klartext der Jahresangaben des ersten Briefes, sondern "in den Worten des Propheten" ("Steht an der Jahreszahl vier und fünf...") - statt sich in den bis 1949 verbleibenden drei bis vier Jahren als warnender Wanderprediger zu betätigen ?

Man muss nicht die Chaostheorie bemühen, es reicht die Kenntnis der Grundrechenart Addition, um zu wissen, daß die Summe kleiner Text-Änderungen, und sei es nur in der Zeitgeist-bedingten Wort-Bedeutung ("es kommt die ganze Lumperei auf", "es liegt alles am Boden wie ein Ungeheuer" usw.), zu kapitalen Fehl-Interpretationen führen kann:
Bereits Elmar R. Gruber, der damalige Mitarbeiter Benders, zitiert falsch aus dem ersten Brief "Das 'erste Weltgeschehen' gehe 'ins fünfte Jahr' und sei für Deutschland verloren..." und verdeckt damit den Bruch zwischen beiden Briefen, den ich hier aufzuzeigen versuche, mit einer vorgeblichen Kontinuität, die so nie vorhanden war:
"Offensichtlich hatte der »prophetische Franzose« in vielen Details den Verlauf des Ersten Weltkriegs, die Zwischenkriegszeit und den Zweiten Weltkrieg vorhergesagt. Zu allem Unglück hatte der Visionär auch von einem »dritten Weltgeschehen« gesprochen und dieses mit den überlieferten Endzeitbildern beschrieben. Bender stürzte sich mit dem Eifer des Erschrockenen auf diesen Fund ...
... Das »dritte Weltgeschehen«, von dem die dunkle Prophetenstimme raunte, stand ihm als höchst bedrängende Gefahr vor Augen. Er war wieder einmal vom Beobachter zum Mitakteur im Gegenstand seines Interesses geworden. Carl Friedrich von Weizsäcker, dem er von den Visionen des Franzosen erzählte, bestätigte gleichsam seine Ängste – trotz seines Misstrauens gegen die meisten Prophezeiungen –, weil er die damalige weltpolitische Lage selber als sehr gefährlich betrachtete.
In dieser Periode trieb Bender die Auslagerung der Bibliothek voran, dachte über einen Atombunker für das wissenschaftliche Material der »Eichhalde« nach und entwickelte Pläne, sich im Ausland ein Pied-à-Terre zu verschaffen, wo er in Sicherheit weiterforschen könne."

(Elmar R. Gruber: „Suche im Grenzenlosen. Hans Bender – eine Leben für die Parapsychologie“)

Die wenigen nicht eingetretenen aber prophezeiten Ereignisse nicht als schlichten Irrtum des prophetischen Franzosen abzuhaken, sondern diese in die Zukunft zu verlegen und mit ebenso geschmeidiger wie willkürlicher Neu-Anordnung der Abfolge zur jeweils aktuellen Entwicklung wieder "passend zu machen", was man mit notwendiger Richtigstellung der chronologischen Darstellung Rills, dem da angeblich einiges durcheinander geraten sei, oder mit der Korrektur ihm unterstellter Missverständnisse als Zuhörer rechtfertigt, kann dem m.E. von Rill 1945/46 "nachgereichten" zweiten Brief ein ähnlich langes Leben bescheren wie dem "Dokument" der Konstantinischen Schenkung - Sagittas Sekt anlässlich des "Tages der Dekonstruktion der Feldpostbriefe" wird dann wohl schal geworden sein. :-(

Gruß
Ulrich


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