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Die unangenehme Frage (Schauungen & Prophezeiungen)

Taurec ⌂, München, Montag, 13.03.2023, 09:12 (vor 410 Tagen) @ Taurec (938 Aufrufe)
bearbeitet von Taurec, Montag, 13.03.2023, 09:19

Hallo!

"I don't plan to track down and validate the origins of every single prophecy I've utilized. There are already plenty of sites and skeptics' commentaries available for that, some of which I've included."

Das bedeutet natürlich im Umkehrschluß, daß wir es vermutlich mit einer Interpretation des sattsam bekannten Prophezeiungskanons aus russischer Perspektive, d. h. mit einem "Zaren" als dem Großen Monarchen zu tun haben. Ohne vorangegangene Quellenkritik kann man es allenfalls als Zusammenfassung des Textmaterials ohne Anspruch auf weltgeschichtliche Richtigkeit auffassen.

Und weiter:
"I was struck by how different the presentation was from the Christian eschatological theories one finds everywhere. The talk about Russia's future ruler was news to me. Previously, I had only heard about the Catholic Great Monarch."

Das ist nicht weiter verwunderlich. Im europäischen Mittelalter gab es einen Weissagungskampf, bei dem französische und deutsche Propheten darum stritten, die Person des Großen Monarchen als einen ihrer Nation zu behaupten. Davor (vor Karl dem Großen) lag der Schwerpunkt der christlichen Endzeiterwartung auf dem byzantinischen Kaiser. Davor (vor dem Ende des Weströmischen Reiches) sollte der Endzeitkaiser ein römischer sein. Der Prophezeiungskanon ist eine stets fortschreitende, große Wandersage. Nun hat sich die Karawane folgerichtig nach Rußland gewandt, dem letzten existierenden, dezidiert christlichen Großreich.

Der "Casus Knacksus" des vorliegenden Textes, der sich wohl zentral um einen im dem Internetforum https://www.abovetopsecret.com/forum/mem/WanderingMrM schreibenden angeblichen Seher russischer Herkunft dreht, liegt in der Frage, ob er tatsächlich etwas sah, dies nur als anonym bleibender Internetschreiberling vorgibt oder eine Art selbstinduzierter religiöser Erlebnisse eschatologischen Inhalts hat. Das kann ich ohne gründliche Lektüre nicht entscheiden.

Über diese Denkfigur sollte man gründlich reflektieren:

Der "Große Monarch" ist in seinem Ursprung ein religiöses Motiv, das aus der Erwartung der Wiederkehr Jesu in der Endzeit entstanden ist. Jesus selbst war des Glaubens, daß er selbst der Messias sei und die Endzeit in seiner Gegenwart läge. Das hat er klar kommuniziert und er lag damit falsch (Was sagt und das über Jesus und seine behauptete göttliche Natur?). Siehe z. B.: Der Irrsinn der Wiederkehr Jesu, Irrsinn des Messiasglaubens
Nach einigen Generationen, als Rom christlich geworden war, wurde das Römische Reich eschatologisch als Wegbereiter der Endzeit betrachtet. Das römische Kaisertum sollte vom Antichristen korrumpiert und dann von einem aus der Peripherie kommenden großen Endzeitkaiser repariert werden, der mit dem Messias im Bunde stehen und sein Wiederkommen vorbereiten sollte. Als das Weströmische Reich untergegangen war, geschah zweierlei:

1. Von der Figur des Endzeitkaisers spaltete sich die Figur des Endzeitpapstes ab, weil nach der Abdankung des Kaisers in Rom kein anderer Machthaber mehr verblieb. Aus der Sicht mancher Christen mußte also ein Papst an die Stelle des verschwundenen Kaisers rücken, um die Endzeiterwartung weiterhin glaubhaft bleiben zu lassen. Seitdem haben wir im Prophezeiungskanon den Fluchtpapst, der sogar noch bei Irlmaier vorkommt.
2. Das Motiv des Endzeitkaisers heftete sich zunächst an den Oströmischen Kaiser. Das Byzantinische Reich war das in der Endzeit regierende christliche Reich, das dem Griff des Antichristen ausgesetzt war. Als mit dem Beginn des abendländischen Zyklus in Europa das vakante weströmische Kaisertum von Karl dem Großen und später von den deutschen Kaisern aufgegriffen wurde, rückten (zeitgleich mit dem Niedergange Byzanzens) europäische Königreiche an die Stelle des christlichen Endzeitreiches, mit der erwähnten Streitigkeit zwischen Deutschland und Frankreich, wer die Ehre der Rettung der Christenheit haben sollte. Bei Nostradamus ist Chyren Franzose. Das wirkt bis (zum erfundenen) Kugelbeer nach. Bei den deutschen Propheten mit Nachwirkung bis Irlmaier und dem Waldviertler ist er ein Deutscher. Der Endzeitpapst läuft als Komparse nebenher und bekommt die Aufgabe, dem "Großen Monarchen" durch eine besondere Krönung auf der Flucht die himmlischen Weihen zu verleihen und ihn damit erst in die Lage zu versetzen, das Christentum zu erneuern.

Aus religiösen Gründen ist es völlig unmöglich, eine Aussage des Sohnes Gottes abzulegen, selbst wenn sie sich eindeutig als falsch herausgestellt hat. Vielmehr ist sie aus Glaubenssicht grundsätzlich wahr. Diese Wahrheit ist der axiomatische Ausgangspunkt, nach dem sich die Wirklichkeit zu richten habe. Alle Unstimmigkeiten sind nur eine Frage der richtigen oder falschen Interpretation. Entsprechend wird die Prophezeiung im Laufe der Zeit zwar abgewandelt, muß im Kern aber unangetastet bestehen bleiben. Daher entstehen mit Aufstieg und Untergang verschiedener Hochkulturen und Reiche immer neue Varianten der großen Weissagung, die auf die jeweilige Epoche angepaßt und fiktiven Sehern zugeschrieben werden. Der Übergang der Rollen des christlichen Reiches der Endzeit und des Großen Monarchen auf Rußland und dessen Machthaber ist ideengeschichtlich nur folgerichtig.

Die unangenehme Frage aller Fragen: Wenn nun ein angeblicher (russischer) Seher auftaucht, der sich explizit auf ein religiöses Wandermotiv bezieht, so wie man eine Aussage paraphrasiert zitiert, wie nahe kann dann der Gedanke, daß es sich um eine inhaltlich unabhängige, eigenständige, authentische Seherschauung handelt, überhaupt liegen? Wäre von einem unbeleckten, eigenständigen Seher nicht zu erwarten, daß er echte Schauungen mit eigenen Worten so beschreibt, daß sie nicht automatisch in alte religiöse Kategorien fallen? Wie müßte eine Bewertung dieses so genannten "Sehers" also logischerweise aussehen?

Gruß
Taurec


„Es lebe unser heiliges Deutschland!“

„Was auch draus werde – steh zu deinem Volk! Es ist dein angeborner Platz.“


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