Das Schlimme an der weiteren Gemeinheit (Schauungen & Prophezeiungen)

RichardS, Montag, 07.01.2013, 12:33 (vor 4127 Tagen) @ BBouvier (5856 Aufrufe)
bearbeitet von RichardS, Montag, 07.01.2013, 12:39

Leider ist das aber noch nicht alles, was das Phänomen "Schauungen"
dem geneigten Leser zumutet.

Da gibt es offenbar noch ganz andere Gemeinheiten.

Etwas ganz schräges hat mir 1966 ein junger Mann
berichtet, der Bauarbeiter war.
Und dieses Erlebnis verfolgte ihn schier seither.
Der "träumte" überaus deutlich, er stehe in einer Neubausiedlung
im 3. Stock und schaue aus der Fensteröffnung.
Seine damalige Baustelle.
Der Kran hebt soeben ein riesiges Fertigbetonteil
mit seinem Zangengreifer vom Boden und schwenkt es
hoch, zum Nachbarhause.
Das Teil rutscht aus dem Greifer und erschlägt den
darunter gehenden Polier.

Nächster Tag.
Er steht in eben jener Wohnung und arbeitet.
Schaut zufällig aus dem Fenster.
Der Kran hebt schon das Betonteil.
Fast genau darunter geht nichtsahnend der Polier.
Bevor er noch warnend !Achtung! schreien kann,
löst sich schon das Fertigteil und fällt:
=>
Direkt neben (!) den Polier.

Wat nu?? :confused:

Taurec meint dazu:
=>
"Wahrscheinlich hat die Befürchtung des schlechten Ausgangs
oder der emotionale Streß bei der beobachteten Situation,
während sie gesehen wurde, ein Bild erzeugt,
welches das tatsächliche Ende einfach überdeckte.
Die Gefahr wurde erkannt und gesehen
."

Beste Grüsse!
BB

Hallo BB!

Diese Geschichte des jungen Bauerarbeiters hattest Du schon einmal erzählt. Beim heutigen Lesen kam mir, noch bevor ich die von Dir angehängte Erklärung Taurecs las, folgende mögliche Erklärung: Als der Bauarbeiter die für den Polier so bedrohliche Szene "träumte", setzte an einer bestimmten Stelle des Szenenverlaufs sein eigenes Urteilsvermögen ein (ein Konglomerat aus logischer Denkfähigkeit, subjektiver Welt- und Lebenserfahrung, dadurch prädestinierte Neigung zu Annahmen, Erwartungen und Vorurteilen) - womit er in das, was ihm "träumte", qua eigener Vorstellung über den weiteren Verlauf aktiv eingriff, an das Geträumte anknüpfte, es mit eigenen Bildern weiterspann. Möglich, dass er, wie Taurec schreibt, mit dem von ihm erzeugten Bild "das tatsächliche Ende einfach überdeckte" - auf diese Idee war ich gar nicht gekommen -, ebenso möglich aber, dass ihm das Ende auch ohne aktives Weiterspinnen gar nicht gezeigt wurde / worden wäre; er also nichts überdeckte, sondern sein Verstand die Szene zu einem logischen, zu einem der eigenen Meinung nach am ehesten zu erwartenden Ende zu Ende führte. Schauungen oder Träume zeigen dem Seher oder Träumer ja oft genug nur Splitter, Bruchstücke eines Geschehens, der Mensch aber fühlt sich nicht selten gezwungen, etwas Wahrgenommenes zu einem Ganzen sich zu reimen. Es einzuordnen, zu klassifizieren, im Grunde damit abhaken zu können.

Aber egal, ob mein Gedanke oder Taurecs Vermutung im Falle des "träumenden" Bauarbeiters zutrifft: Falls (!) es so zu erklären wäre, hieße das, dass dem "träumenden" Bauarbeiter in keinem Moment bewusst wurde, dass die geträumte Szene, die sich später als deckungsgleich mit dem realen Geschehen erwies, von völlig anderer Qualität war als der geträumte Szenenabschnitt, der sich daran anschloss. Der Bauarbeiter nahm beide Szenenteile bruchlos, in derselben Intensität und Qualität und ohne logischen Widerspruch war, sozusagen in einem Fluss und Guss. Der Szenenanfang muss ihm so wahr, so gleichwertig geträumt erschienen sein wie das Szenenende; etwas anderes anzunehmen, gab es für ihn keine Indizien, auch nicht im Nachhinein, andernfalls würde ihm das Erlebnis später auch nicht so zugesetzt haben, wie Du es beschreibst.

Und welche Konsequenzen müssen wir aus einem solchen Beispiel womöglicherweise für unseren Gegenstand "Schauungen (und Träume)" ziehen? Dass in der Wahrnehmung des Sehers (oder Träumers) grundsätzlich Szenen, die dem Seher (oder Träumer) "gesendet" werden, mit solchen Szenen, die der Seher (oder Träumer) kreativ ein- oder anfügt, nahtlos (!) zu einem Ganzen sich zusammenfügen können? Und dieses "Ganze" (das in Wahrheit aber die Summe von qualitativ völlig unterscheidlichen Teilen ist) nicht nur ihm selber sich als ein solches Ganze (als ein (!) Wahrgenommenes) präsentiert, sondern über ihn, sofern er es uns mitteilt, auch uns?

Läge das Geschehen des "Traums" des Bauarbeiters noch in der Zukunft und angenommen, der Inhalt wäre ein anderer und von kollektivem, also auch für uns von Interesse: Weder die Logik noch ein anderer Anhaltspunkt innerhalb des präsentierten Ablaufs könnte uns die Vorstellung nahelegen, dass der Szenenanfang zwar valide, das Szenenende aber nur subjektiv fortgesponnen sei und das künftiges Ereignis in seinem berichteten Ergebnis falsch darstelle. Wir können also - und dafür steht das Beispiel - nicht ausschließen, dass solche Sprünge, solche Bruchstellen im Wahrnehmungsprozess von Berichtenden häufiger stattfinden - also nicht nur Ausnahmefälle sind. Dafür spricht, dass der Prozess, der bei dem Bauarbeiter in seiner Wahrnehmung ablief (falls Taurecs und meine Vermutung zutrifft), ein durch und durch allgemeinmenschlich konditionierter, damit eben auch ein allgemeines Phänomen ist (der Mensch ist so konstruiert, dass er Befürchtungen und Ängste hat; dass er etwas zu Ende denken, etwas zu Ende reimen, eine ihm stimmig erscheinende Logik in die Sache bringen will, ja geradezu muss, sobald er etwas beobachtet, wahrnimmt; dass er Wünsche, Sehnsüchte, Hoffnungen hat; dass traumatisch Vor-Erlebtes in ihm arbeitet, usw.). Vorsicht vor Berichten ist also selbst dann zu üben, wenn diese in sich widerspruchslos sich präsentieren oder mit anderen Berichten sich teilweise decken - denn in letzterem Fall (Deckungsgleichheit) können auch kollektive Ängste, Wünsche, Logiken etc. am Werk sein.

Gruß, Richard


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