Der ummauerte Garten der Wahrheit (Freie Themen)

nemo, Dienstag, 17.11.2020, 23:39 (vor 1258 Tagen) @ nemo (1125 Aufrufe)

Hallo,

die Antwort auf eine Mail, stelle ich mal hier ins Forum, weil
es mir lieber ist, in einem Forum zu schreiben als private
Gespräche zu führen.

Klingt gut, was Du schreibst.

Nur weiß ich jetzt nicht ob "Bewusstsein" so so entscheidend ist.
Wir können beispielsweise unsere Hand heben ohne den Mechanismus
dahinter zu verstehen oder das bewusst zu tun. Weil eigentlich
willst du nur einen Ball fangen, als Beispiel. Dann kannst das
gleiche mit externen Gegenständen machen, das ist dann Telekinese.
Das funktioniert auch, ist vom "Gefühl" her dasselbe wie
die Hand heben und wenn man es genau betrachtet, kannst auch
beim Handheben nicht sagen, wann und wo der Übergang vom Geist
in die Physis ist. Es ist in letzter Konsequenz nicht so wichtig.
Wichtig ist nur, dass Dinge geschehen. Und die gelingen mit den
gelindesten Mitteln. Irgendwie hat die Schöpfung den Wunsch
Dinge möglichst effizient und unspektakulär ablaufen zu lassen.

Das was Du beschreibst ist die instinktive Energie im Menschen.
Kommt etwas angeflogen, ducke ich mich automatisch, ohne dass
dazu Bewusstsein nötig wäre. Es ist das einfachste und älteste
Zentrum, das wir besitzen: Die Körperlichkeit.
Mit den Gefühlen ist es schon weitaus schwieriger. Wie reagiere
ich auf negative Äußerungen anderer? Wie gehe ich mit Ablehnung
oder schwierigen Situationen um?
Hier braucht es Bewusstsein. Die automatische Reaktion bringt
keinen Fortschritt.
Mit dem Denken ist es noch problematischer. Wie erkenne ich
meine eigenen Glaubenssätze und falschen Vorstellungen? Das ist
praktisch nicht lösbar, ohne ein Bewusstsein seiner selbst.

Dann ist das schon etwas anders mit "echtem" Bewusstsein.
Manchmal komme ich in solche Zustände. Dann ist alle Information
über einen Sachverhalt instantan in allen Details einfach "da".
Jede Ursache, jede ausgehende Wirkung. Jeder Einfluss, jede
Wechselwirkung. Da alles alles bedingt und tangiert eine praktisch
unendliche Kette. Und Dinge und Wesen existieren nur durch den Wandel.
Ohne die Interaktion ist das was Leben ist praktisch nicht vorhanden.
Wenn sie dich verbannen und du bist allein mit.dir selber, bist quasi tot.
Dazu muss man sein Ego in keinster Weise verleugnen, was man muss ist
nur "offen" sein. Es sind die Bretter vor unseren Köpfen,
die Bewusstsein verhindern, unsere Glaubenssätze und Axiome.

Die Sufis haben ein schönes Bild dafür. Sie sagen, der Mensch lebt
in einem ummauerten Garten der Wahrheit. Wir sehen nur die Mauer,
aber nicht die Wirklichkeit. Die Mauer ist unser illusionäres Ich.

Das was wir sehen, sind unsere Einbildungen und Vorstellungen.
Es gibt einen Ausweg aus diesem Gefängnis:
Der Mensch kann sich selbst sehen, oder anders gesagt, er kann ein
Bewusstsein seiner selbst entwickeln. Hier ein kurzer Dialog zwischen
Lehrer und Schüler, der so geführt wurde:

Lehrer: Wissen Sie was Bewusstsein bedeutet?

Schüler: Ja, es bedeutet etwas zu kennen.

Lehrer: Nein, nicht etwas zu kennen, es bedeutet
sich selbst zu kennen.

Dieser kurze Dialog enthält alles was man wissen muss, vorausgesetzt,
man vertraut dem Lehrer. Vertraut man ihm, dann bleibt nur noch
die Frage: Wie erkenne ich mich selbst?

Es hat etwas damit zu tun, dass wir uns selbst immer wieder vergessen.
Wir sind manchmal da und manchmal nicht.
Wenn es nichts zu tun gibt, oder wenn wir abgelenkt oder müde
sind, dann verlieren wir den Zustand der inneren Aufmerksamkeit.
Daher ist es nötig die Aufmerksamkeit so oft wie möglich bei
uns zu behalten. Selbst dann, wenn wir entspannt auf dem Sofa
liegen und ausruhen.

Solange das Bewusstsein automatisch funktioniert, haben wir keine
Möglichkeit, etwas daran zu ändern. Wenn wir die Aufmerksamkeit bei
uns behalten, können wir die Mauer unserer eigenen Illusionen sehen.
Wenn wir sie täglich sehen, beginnt ein echtes Ich zu wachsen,
das viel realer, stärker - bewusster - ist, als das illusionäre
Ich, das wir kennen.

Jetzt kann man fragen, warum nicht alle Menschen ein bewusstes Ich
haben? Es liegt an dem ummauerten Garten und der Selbsttäuschung,
dass das, was wir sehen, die ganze Wirklichkeit wäre.

Gruß
nemo


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