Heimatbegriff (Schauungen & Prophezeiungen)

Baldur, Montag, 12.10.2015, 11:48 (vor 3133 Tagen) @ Lieselotte (4371 Aufrufe)

Hallo, Lieselotte,


Flüchten ins Ausland, das machen Menschen, die ihre Heimat lieben, nicht.

Das ist eine innere Einstellung und nicht landesspezifisch.

natürlich kann ich diese Einstellung verstehen. Es ist halt nur die Frage, wie man Heimat definiert.

Heimat ist für mich nicht nur der Landstrich mit seiner typischen Bebauung, das Landschaftsbild, die Sprache mit ihrer Dialektfärbung, es sind vor allem die dort ansässigen Menschen.

Fahre ich besuchsweise in die Gegend meiner Kindheit, sehe ich eine starke Veränderung, und fühle das Fehlen von Anziehung und Geborgenheit, es gibt dieses Daheim nicht mehr, seitdem die vorhandenen Verwandten und Bekannten am Friedhof liegen.

Die nächste Nachbarschaft zu meinem Elternhaus kommt einerseits zusehends herunter und verwahrlost (leerstehende Geschäfte, verdreckte Fassaden, Graffittis als sichtbare Zeichen einer Verachtungs- und Zerstörungshaltung), andererseits verändert sie sich durch Neubauten (Verdichtung), die den ehemals dörflichen Charakter der "Kleinstadt" vollends beseitigt haben.

Wo ehemals ein ruhiger Lagerplatz einer Baufirma war, stehen nun quasi drohend Wohnblöcke, die die bisherige Nachbarbebauung dominant überragen und für rund 80 bis 100 Bewohner gedacht sind.

Dass man Passanten als Fremde empfindet, weil man sie halt nur nicht persönlich kennt, ist nicht das Problem. Statt dessen sind sie wirkliche Fremde, sie sind erkennbar eben Siedler aus anderen Kulturkreisen, und der Schwung Kindergartenkinder auf dem Weg durch den Park hat mehrheitlich Wurzeln südlich der Sahara, wie ich beim letzten Besuch sehen konnte.
Kopftücher sind auch nicht mehr ein seltenes Relikt alter Bauersfrauen, sondern die Standardbekleidung im Strassenbild.

Ganz ehrlich, wo soll dort noch meine Heimat sein?

Gleiches in der Gegend meiner Vorfahren (hier: Niederbayern). Ehemals schmucke Gutshöfe stehen heute als zusammengefallene Ruinen in der Landschaft, die Fenster zerschlagen und die Dächer eingebrochen.

Die ehemals hoch bewertete Hotellerie hat die besten Zeiten hinter sich, aber für die dringend nötigen Renovierungen fehlt das Geld.

In die damaligen Wohnungen von Verwandten zogen nach deren Tod erst Bewohner vom unteren Rand der Gesellschaft, aktuell werden es wohl die ungezählten und unregistrierten Neubürger sein aus aller Herren Länder. Dort wurde seit 50 Jahren kein Eimer Farbe mehr an die Wand gepinselt, Stillstand und Rückschritt dokumentieren sich auch da an leerstehenden Geschäften und verklebten Schaufenstern.

Ja, es gibt einzelne Ausnahmen, der Käufer des Hauses meiner Oma hat viel investiert und es toll herausgeputzt. Aber er bekäme seine Investitionen nie mehr heraus.

Insofern ist Heimatliebe zwar etwas quasi heiliges und sollte in Ehren gehalten werden, andererseits kann sich das als Etikettenschwindel erweisen, weil Heimat meiner Ansicht nach keine Gegend, sondern ein Zustand ist, der vergänglich und zerstörbar ist. Und dann nicht mehr real existent, nur noch in unserer Erinnerung vorhanden.
In der Vergangenheit und nur von Erinnerungen kann man nach meinem Dafürhalten nicht leben, darin untergehen sehr wohl.

Das muss aber jeder selbst für sich entscheiden. Mir geht es im Exil besser.

Beste Grüsse vom Baldur


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