Materialismus (Schauungen & Prophezeiungen)

Leseratte, Freitag, 23.04.2021, 16:59 (vor 1111 Tagen) @ Isana Yashiro (755 Aufrufe)

Hallo Shiro,

Das Alte Testament spielt schon im hellenistischen Raum? Bei Wikipedia steht "Das Buch gibt vor, im 6. Jahrhundert v. Chr. verfasst worden zu sein, entstand aber tatsächlich erst während der Konflikte der Makkabäer mit dem Seleukiden Antiochos IV. (167–164 v. Chr.)." Inhaltlich ist es wie die Offenbarung des Johannes eine Auseinandersetzung mit der damaligen imperialen griechischen oder römischen Besatzungsmacht und der griechischen und später griechisch/römischen Zivilisation.

Aber ging es darum? Paulus ging es um eine leicht akzeptierbare Lehre, also wollte er vielleicht viele Leute einfangen. Jesus verriet Geheimnisse, die den damaligen Eliten vorbehalten oder schon vergessen waren. Wenn überhaupt eine Lehre schwierig zu verstehen ist, dann ist es die paulinische Theologie. Sie ist ohne eine Kenntnis des Judentums, der griechischen Philosophie und damaligen jüdischen Esoterik nicht zu verstehen. Dazu muß man noch die damalige Lehre von dem kosmischen Menschen, der dem indischen Purusha glich kennen, und vielleicht auch sich ansatzweise vorstellen können, was seine Erfahrung sein könnte. Auch jetzt sind die paulinischen Briefe der am meisten mißverstandene und kontroverste Teil des Neuen Testamentes. Ihre Inhalte, ihre Theologie und die jetzigen Kontroversen auch nur ansatzweise hier zu besprechen, würde den Rahmen des Forums sprengen, daher möchte ich hier nichts weiter dazu beitragen. Bei Jesus wissen wir, außer in gnostischen Schriften, von keiner Geheimlehre, noch von Geheimnissen, die nur die Elite wusste. Nur wissen wir nicht, was bei den gnostischen Evangelien – wie bei Daniel – nachträglich Jesus in den Mund gelegt wurde, einzig die Logienquelle in den synoptischen Evangelien scheint von Augenzeugen zusammengefasst zu sein.

Nun zum Letzten, was du schreibst. Mir scheint, dass du sagen willst, dass die Aussage Jesu, "Laß die Toten die Toten begraben" eine Absage an den Materialismus sei. Und dass dies eigentlich Widerworte gegen die heutigen, seelisch oder spirituell toten Menschen seien. Es passt aber nicht. Im Mittelmeerraum war damals des Bestatten der Toten bei Griechen und Juden eine religiöse Pflicht. Man kann das mit Martha und Maria vergleichen: Martha die kocht und auftischt, beschwert sich bei Maria, dass sie Jesus zuhöre und sonst untätig sei. Im Orient war (und ist) Gastlichkeit eines der höchsten Güter. Gastlichkeit war auch, uneingestanden, eine religiöse Pflicht. Maria versetzt nicht nur ihre Schwester, sie handelt auch gegen Sitte und religiöse Pflicht. Die Begründung Jesu ist simpel, er, Jesus, sei das Himmelreich, und seine Anwesenheit und sein Wort seien wichtiger als alles andere, inklusive religiöse Pflicht. Deswegen passt meiner Meinung nach deine Begründung, es sei eine Absage an den Materialismus, nur so halb. Hinzu kommt, dass es zwar in Israel Sadduzäer gab, die so nicht an eine Fortleben nach dem Tode glaubten, aber die gesamte Antike war so von Religion, Aberglauben und religiöser Praxis durchzogen, dass es schlichtweg keinen mentalen Raum für Atheismus gab. Wenn überhaupt, lassen sich philosophische Grundzüge des Atheismus erst bei Wilhelm von Ockham finden (Gott sei eine Sache des Glaubens, die Regeln der Welt, also die scholastischen Ideen, seien nach den Dingen erst gedacht und man müsse sie so prüfen wie Folterknechte einen Angeklagten). Richtig virulent wird Atheismus erst in der Wende zum achtzehnten Jahrhundert, als man während der Hexenverfolgung kritischer geworden war gegenüber von Anklägern behaupteten magischen Praktiken und sich mit dem Kapitalismus in England eine Ideologie ausbreitete, die den esoterischen und magischen Zusammenhalt der Dinge, wie ihn die Alchemie kannte, leugnete. Schwierig ist es immer, das Heute auf das Damals zu Übertragen.

Viele Grüße Leseratte


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