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Adlmaier, Simplicissimus und weitere Überlegungen (Schauungen & Prophezeiungen)

Taurec ⌂, München, Mittwoch, 04.09.2019, 16:25 (vor 1696 Tagen) @ Nullmark (1238 Aufrufe)
bearbeitet von Taurec, Mittwoch, 04.09.2019, 18:12

Hallo!

1. Welcher Personenkreis hat den Simplicissimus um 1926 gelesen?

Ich vermute, die Klientel dürfte im liberalen, demokratischen Bereich anzusiedeln sein. Die Ausrichtung entsprach dem damaligen Zeitgeist, ähnlich dem heute eher linken Satiremagazin "Titanic" von Martin Sonneborn.

Wikipedia:
"Mit der Ausrufung der Weimarer Republik war der Simplicissimus in der Regierungsform angekommen, für die er sich immer starkgemacht hatte. Doch mit der Abdankung der Monarchen und ihrer Klientel war seiner Kritik auch eine wichtige Gruppierung abhandengekommen. Von Beginn an wurden nun die Wirren der Formierung eines neuen Regierungssystems und das parteipolitische Taktieren gnadenlos bloßgestellt.
[...]
Großstädtisches und Themen des modernen Lebens gaben der Zeitschrift ein neues Flair. Arnolds Berliner Bilder, die auch als Album veröffentlicht wurden, sind hierfür ein Beispiel."

2. Ist wahrscheinlich, dass I. oder A. dazugehörten?

Irlmaier will ich als Leser ausschließen, der er weder an sich ein großartiger Leser war, noch mit der Ausrichtung der Zeitschrift etwas gemein hatte.
Adlmaier käme als Intellektueller eher in Frage, nicht jedoch durch seine konservative und traditionelle bzw. heimatpflegerische Ausrichtung (Adlmaier war maßgeblich für die Trachtenbewegung der damaligen Zeit). Der Simplicissimus bediente wohl eher den "Geist der Großstadt", also das liberale Bürgertum und Münchner Künstlerkreise.

Wie Adlmaier innerlich tickte, geht wohl aus folgenden Worter hervor, die ich auf die Schnelle gefunden habe, anläßlich des Kriegsausbruchs 1914:

"»Die Stunde der Entscheidung, ob Krieg oder Frieden, hat gestern Abend geschlagen. […] Die Uhr zeigte 7.35, als ein Telegramm die Mobilmachung meldete. Große Menschenmengen sammelten sich am Maxplatz, von allen Seiten ertönten Hochrufe. Kurz vor ½ 9 Uhr erscholl aus Hunderten von Kehlen, begleitet von den Klängen der Stadtkapelle, das Lied Deutschland, Deutschland über alles. Herr Dr. Adlmaier ergriff aus der Menge das Wort, um dem Publikum in begeisterten, patriotischen Worten den Ernst dieser Stunde kund zu machen. Mit dem Wunsche, daß Gott, der Allmächtige, seine schützende Hand über den Dreibund [bestehend aus Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien; Anm. d. Verf.] halten möchte, schloß der Herr Redner mit einem brausend aufgenommenen Hoch auf unseren obersten Kriegsherrn, den deutschen Kaiser, und unseren vielgeliebten König. Die Wacht am Rhein und die Königshymne ertönten, und alles sang entblößten Hauptes mit. Manch heiße Träne entquoll dem Auge […]. Immer wieder ertönten laute Hochrufe.

[…] Zu einer imposanten Kundgebung patriotischen Empfindens gestaltete sich die gestrige Abschiedsfeier der Traunsteiner Krieger im Sailer-Keller, veranstaltet vom Stadtmagistrat Traunstein. Eine gewaltige Menschenmenge lauschte in atemloser Stille den von echter und wahrer Vaterlandsliebe durchglühten Ansprachen der Herren Landgerichtsrat [Dr. Eugen] Rohmer, Bürgermeister Dr. [Georg] Vonficht, Kanzleirat [Josef] Donaubauer und Redakteur Dr. [Conrad] Adlmaier. Brausende Hochs auf Kaiser Wilhelm und König Ludwig sowie Kaiser Franz von Österreich durchbrausten den großen Kellergarten, patriotische Lieder erklangen aus vielen Hunderten von Kehlen."

(Quelle: https://www.traunsteiner-tagblatt.de/das-traunsteiner-tagblatt/chiemgau-blaetter/chiemgau-blaetter-2018_ausgabe,-nun-ziehen-sie-hin-bereit-blut-und-leben-zu-opfern-_chid,1828.html)

Die patriotisch-monarchistische Gesinnung dürfte der Ausrichtung des Simplicissimus entgegenstehen, weswegen Adlmaier eher nicht zu dessen regelmäßigen Lesern gezählt haben dürfte. Die Karrikatur von 1926 dürfte er nicht gekannt und schon gar nicht mehr als 26 Jahre später in Abwandlung dem Irlmaier zulanciert haben.

Zu bedenken ist zudem:
1.
Die Irlmaieraussage ist erst ab 2012 durch eine Zeitzeugin belegt. Irlmaier hat sich offenbar persönlich dazu geäußert. Eine Verbindung zu Adlmaier ist nicht nachweisbar. Hätte Adlmaier mit der Zubanschachtelaussage etwas zu tun gehabt, würden wir in irgendeiner seiner Veröffentlichungen etwas dazu lesen, weil diese Irlmaiers persönlichen Mitteilungen zugrundelagen. Es gilt also: Alles, was Adlmaier schrieb, wurde auch von Irlmaier erzählt. Nicht alles, was Irlmaier erzählte, steht aber auch bei Adlmaier. Der Kern der Angelegenheit ist also tatsächlich auf Irlmaiers Mist gewachsen.

2.
Es ist eigentlich noch ein großer Schritt von der grundsätzlichen Denkbarkeit drahtloser Telefonie zu den doch vergleichsweise präzisen "Zubanschachteln". Die Karrikatur läßt erkennen, daß man seinerzeit sich zwar denken konnte, wohin die technische Entwicklung im weitesten Sinne laufen könnte, keineswegs aber in der Präzision der letztendlichen Verwirklichung, die in den Aussagen über die Zubanschachteln enthalten ist:

"Papperdeckel das man in' Zuban-Schachtel steckt. Damit wird bezahlt."

=
[image]

"Leute sprechen in’ Zuban-Schachtel nei – mit dem spuins aa."

=
[image]

Das wäre 1926 noch nicht erahnbar gewesen. Ernst Jüngers Romantelefon "Phonophor" von 1949 belegt immerhin, daß weitsichtige Geister sich denken konnten, was dereinst konkret möglich sein könnte. Wäre Irlmaiers Aussage für diese Zeit belegt, wäre das noch immer phänomenal, da man ihm nicht die Lektüre philosophischer und dystopischer Romane unterstellen kann.
Kurzum: In den Zubanschachteln ist noch ein Element, das sich nicht völlig schlüssig aus gängigen Vorstellungen der damaligen Zeit erklärt.

Das führt zu folgendem Problem:
Es handelt sich bei Irlmaiers angeblichen Aussagen (siehe oben) um zwei verschiedene (!!!) Technologien, die von Irlmaier als Zubanschachteln beschrieben worden sein sollen.
Die Frage stellt sich eher, ob die Aussagen authentisch sind, nachdem sie erst dokumentiert wurden, nachdem beide Technologien bereits Realität waren.

Fest steht: Irlmaier hat wohl irgend etwas mit "Zubanschachtel" gesagt, weil Zubanschachteln zeitgenössische Gegenstände waren, die einem späteren Erfinder kaum in den Sinn gekommen sein dürften.
Hat Irlmaier aber so undeutlich gesehen, daß ihm der Unterschied zwischen einem Automaten, der eine Karte aufnimmt, und einem kleinen Bildschirm, auf dem die Leute herumwischen, mit dem sie reden und der mit Karten gar nichts zu tun hat, nicht aufgefallen ist?

Mir scheint dies darauf hinzudeuten, daß die Aussage zwar einen wahren Kern hat, durch die Zeitzeugin aber in der Erinnerung verfälscht worden sein könnte. Als die Technologien (mutmaßlich die Zubanschachtel) in der Gegenwart verwirklicht wurden, hat die Zeitzeugin womöglich und ohne es zu merken die Erinnerung auf die Gegenwart hingebogen.

Für authentischer und näher an Irlmaiers Ursprungsaussage halte ich die Variante, die mit den EC-Kartenautomaten zu tun hat. Der Grund hierfür liegt darin, daß Irlmaier sich gegenüber der selben Zeitzeugin in anderem Zusammenhange ebenfalls über Bezahlmodalitäten äußerte:
"Und dann hat er hat auch gesagt: ‚Wir haben einmal überhaupt kein Geld mehr. … Und dann ist es so, wenn der finstere Mann die Regierung hat, dann kriegt a jeder a Nummer, und dann braucht er a koa Geld mehr, weil dann wird durch die Nummer das Geld abgebucht.‘"

Irlmaier hat sich also auf Bibelbasis eine bargeldlose Antichristherrschaft zurechtphantasiert, wie es bei Anhängern der christlichen Endzeitprophetie ja keine Seltenheit ist. Dazu paßt eine Wahrnehmung über bargeldlose EC-Kartenzahlung immerhin grundsätzlich, weswegen ich eine solche Aussage als näher am originalen Irlmaierwortlaut erachte. Denkbar ist, daß Irlmaier diese Technologie tatsächlich sah und für ihn sinnvoll in sein christliches Weltbild einbaute (das in dieser Ausprägung bei Adlmaier in der Tat nicht zu lesen ist).

(Das ist auch in etwa das, was ich bereits letzten Sonntag im Chat zu den Zubanschachtelaussagen schrieb.)

Gruß
Taurec


„Es lebe unser heiliges Deutschland!“

„Was auch draus werde – steh zu deinem Volk! Es ist dein angeborner Platz.“


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