Schauungen (Schauungen & Prophezeiungen)

Leseratte, Samstag, 29.07.2023, 19:01 (vor 273 Tagen) @ Taurec (2043 Aufrufe)

Hallo Taurec,

zu deinem zweiten Punkt. Wenn man die Geschichte anschaut, tritt der Gedanke an die Apokalypse als Konkretes (okay, lassen wir die Germanen mit ihrer Erzählung vom Ragnoröck beiseite) in dem Moment auf als der Aufstand der Juden gegen Antiochus Epiphanes begann. Weil aber die Griechen auch einen ideologischen Anspruch erhoben (was die Perser etwa nicht taten, Tribut genügte) und es um die Frage der Assimilation ging, wurde der Konflikt auf zwei Ebenen geführt: militärisch und ideologisch. Die Griechen hatten ja mit ihrer rationalen Philosophie, der Ethik und Naturwissenschaft (man kannte etwa den Erdumfang) einen universalen Anspruch erhoben. Die griechische Zivilisation ähnelte darin der unseren. Das Buch Daniel (das keine Prophetie sein will) bildet dabei das ideologische/spirituelle Grundgerüst einer Gegenerzählung, die Abfolge der Tiere entspricht den Imperien, die Juda/Israel besetzt hatten. Apokalypse bedeutet im Buch Daniel nicht die Schau der Zukunft sondern die der, für die Verfasser, monströsen Herrschaft der Griechen. Die Offenbarung des Johannes schlägt in dieselbe Kerbe: Auch hier wird zur ideologischen oder spirituellen Entscheidung angesichts des Anspruchs der Cäsaren, göttlich zu sein, gerufen. Die erdrückenden sozialen Wirklichkeit einer absolut brutalen Sklavenhaltergesellschaft zählt sowieso mit. Der Gedanke der Endlichkeit der römischen Herrschaft soll die Entscheidung für den christlichen Widerstand leichter machen.

Seitdem führt die Apokalyptik ein Eigenleben. So wie die Reflexion über den Tod Grundlage für religiöse Fragen sein kann oder ist, ist seitdem die Reflexion oder Vision des Zeitenendes Mittel sich der jeweiligen (totalen) Ideologie der eigenen Zeit zu entziehen. Die erzählte Apokalypse ist also immer der zwangsweise Gegenpol unserer und aller Zivilisationen. Keineswegs auszuschließen ist, dass endzeitliche Träume oder Bilder hierbei die Funktion haben, Erkenntnis über die Begrenztheit der gesellschaftlichen Kultur oder Ideologie zu gewinnen. Nimmt man den Gedanken einer Akasha Chronik ernst, wird eine Schau, die sich vor allem aus kollektiven Gedanken speist, noch plausibler.

Legt man den europäisch/katholischen Prophezeiungskomplex, der eine quasi kanonische Form angenommen hat, als Fälschung beiseite, bleibt angesichts einiger unfassbaren Schauungen oder Prophezeiungen (Inka, Atzeken, Nostradamus, Parravicini) aber keine sichere Möglichkeit, alle Schauungen als innerpsychische Bilder und Widerspiegelungen einer kollektiv erzählten Apokalypse abzutun.

Ich fürchte, Taurec, deine kluge Frage hilft nicht weiter.

Grüße Leseratte


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