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Ursprung des Hepidanus als Patron der Prophezeiung und Alexander von Humboldt als Inspiration des Fälschers (Schauungen & Prophezeiungen)

Taurec ⌂, München, Freitag, 01.05.2020, 08:48 (vor 1460 Tagen) @ Ulrich (847 Aufrufe)
bearbeitet von Taurec, Freitag, 01.05.2020, 09:01

Hallo!

Gann wertet Goldast noch als sicheren Hinweis auf die Existenz eines Hepidannus.

Goldast führt angeblich drei Bücher an, die von Hepidannus stammen sollen:

1. Annalen der Jahre 709 bis 1062

Anmerkung: Dieser Codex ist in St. Gallen angeblich vorhanden (Codex 915), stammt aber von mehreren Schreibern, derer keiner Hepidannus hieß. Laut G. Scherer wurde das Werk von Goldast willkürlich dem Hepidannus zugeschrieben.

2. Eine Biographie der Heiligen Wiborada

Anmerkung: Eine Originalhandschrift dieser Biographie existiert offenbar gar nicht (Gann: "anscheinend nicht mehr vorhanden". Allerdings existiert im St. Gallener Codex 560 angeblich eine Abschrift derselben, die einem Schreiber namens "Herimannus" (Gann: "wahrscheinlich Ende des 11. Jahrhunderts") zugeschrieben wird (wird inzwischen auch bei Wikipedia erwähnt).

3. Ein Kalenderberechnungsbuch mit Titel "Comptus Ecclesiasticus"

Anmkerung: Befand sich angeblich in Goldasts Besitze, wurde aber von ihm nie veröffentlicht. Seine Existenz ist höchst zweifelhaft. Offenbar ist Goldast der einzige, der es je erwähnt hat. In G. Scherers Beschreibung der St. Gallener Handschriften ist es nicht erwähnt. In der Universitätsbibliothek Bremen, welche die umfangreiche Handschriftensammlung Goldasts seinerzeit von dessen Erben angekauft hat, ist es ebenfalls nicht auffindbar. (Gann, S. 95)

Das erste Werk nennt den Namen Hepidannus gar nicht, das zweite nur den entfernt ähnlich klingenden Herimannus, das dritte ist nicht nachweisbar und ist wahrscheinlich eine Erfindung Goldasts.

Allein auf der Namensähnlichkeit des Herimannus, der in etwa zur Zeit des fiktiven Hepidanus des Prophezeiungstextes lebte, baut Gann seine Überlegungen auf und kommt zu dem Schluß: "Sofern zu der Zeit in St. Gallen nicht noch ein anderer Mönch dieses Namens gelebt hat, haben wir in dem Schreiber somit sehr wahrscheinlich den Seher vor uns."

Gann weiter: "Aber auch wenn der Wiboradabiograph nicht der Seher sein sollte: Schon allein die Tatsache, daß der für Mitteleuropa recht ungewöhnliche (vielleicht irische) Name des St. Gallener Visionärs im dortigen Kloster überhaupt nachweisbar ist, erhärtet die Glaubwürdigkeit der Quellenangabe der Kölner Hepidannusschrift."

Tatsache ist aber, daß der Name in St. Gallen nicht nachweisbar ist. Gann fußt diese Behauptung allein auf Goldasts Angabe, er sei dort nachweisbar, die er einfach glaubt. ("In St. Gallen hat der Name offenbar eine gewisse Tradition, da dort schon einmal im 10. Jahrhundert ein Mönch so geheißen hat (Goldast 1606, S. 3)")

Gann: "Denn wie hätte deren Herausgeber, falls er nicht zufällig Goldasts Buch gelesen hat, sonst auf den ausgefallenen Namen kommen können, wenn nicht dadurch, daß ihm eben tatsächlich eine alte St. Gallener, diesen Namen enthaltende Handschrift (bzw. eine Abschrift derselben) vorgelegen hat?"

Gann hatte offensichtlich nicht unsere Recherchemöglichkeiten, sonst wäre ihm das folgende aufgefallen, das es höchst wahrscheinlich macht, daß dem Fälscher der Name "Hepidannus" aus seiner Gegenwartsliteratur einfach bekannt war.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die französische Wikipedia zu "Hepidannus", womit der von Goldast so genannte Schreiber der Annalen gemeint ist.
Dort heißt es: "Les Monumenta Germaniæ Historica intitulent ce texte Annales Sangallenses Majores (dicti Hepidanni)".

Offenbar nennt der erste Band, betitelt "Annales et chronica ævi Carolini", des Geschichtswerkes Monumenta Germaniæ Historica, der 1826 erschien (also bereits gefährlich nahe an dem angeblichen Ersterscheinen der Hepidanusprophezeiung 1866), die besagten Annalen mit dem von Goldast konstruierten Verfasser "Hepidannus".
Wer also im 19. Jahrhundert in einem damals verbreiteten Geschichtswerk zu den Annalen des Klosters St. Gallen vom 8. bis zum 11. Jahrhundert nachschlug, traf zwangsläufig auf Goldasts "Hepidannus" als Verfasser. Das läßt die Namenswahl "Hepidanus" durch den Fälscher für sein Machwerk von 1866 nicht gerade abwegig erscheinen, wenn dieser nach einem real existierenden Mönche des 11. Jahrhunderts suchte, dem er die Prophezeiung zuschreiben konnte.

Der französische Artikel zu Hepidannus als vermeintlichem Verfasser der Annalen ist aus einem weiteren Grunde interessant:
"Ces annales sont citées entre autres pour un phénomène astronomique mentionné pour l'année 1006 (1012 par erreur dans les éditions Goldast et Duchesne), et que relevait par exemple Alexandre de Humboldt dans son ouvrage Kosmos:
'Nova stella apparuit insolitæ magnitudis, aspectu fulgurans, et oculos verberans, non sine terrore. Quæ mirum in modum aliquando contractior, aliquando diffusior, et jam exstinguebatur interdum. Visa est autem per tres menses in intimis finibus austri, ultra omnia signa quæ videntur in cælo.'"

Die Annalen enthalten für das Jahr 1006 den Eintrag der Erscheinung einer Nova, der von Alexander von Humboldt 1850 in Band III seines "Kosmos" wie folgt zitiert wird:
"Ein neuer Stern ungewöhnlicher Größe erschien, in der Erscheinung leuchtend, und den Augen schmerzlich, nicht ohne Schrecken. Er war bald auf wunderbare Weise zusammengezogen, bald ausgedehnt, und zwischenzeitlich auch verloschen. Gesichtet wurde er dagegen über drei Monate im tiefsten Süden [Taurec: sic!!!], länger als alle Zeichen, die am Himmel gesehen wurden." (Übersetzung von mir, Humboldts Angabe ist im Original hier nachzulesen.)

Auch Humboldt nannte 1850 in seinem bekannten Hauptwerk namentlich Hepidannus von St. Gallen als Urheber der Annalen und zitiert ihn ausdrücklich mit dem Bericht über eine neue Nova, die 1006 am südlichen Himmel erschien.

Ich meine, man kann an dieser Stelle keinen Zweifel mehr lassen, daß der Fälscher der Hepidanusprophezeiung von 1866 Humboldts Buch gelesen hatte und dort den Hepidannus von St. Gallen mit seiner Nova vorfand, welchen Bericht er offenbar als Vorlage der entsprechenden Passage einer neuen Nova (mit Querbezug zur tatsächlichen Nova 1866) in seinem Machwerke heranzog.

Gruß
Taurec


„Es lebe unser heiliges Deutschland!“

„Was auch draus werde – steh zu deinem Volk! Es ist dein angeborner Platz.“


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