Auch Kunst ist nicht beliebig (Schauungen & Prophezeiungen)

RichardS, Samstag, 02.06.2012, 00:09 (vor 4352 Tagen) @ minimel (4620 Aufrufe)

Mein Sohn kam einmal nach der Schule nach Hause und beschwerte sich über die Benotung seines Bildes.
Er hat nur eine 4 bekommen.
Thema war :Abstrakte Kunst!

Und zu Recht meinte er:" Wie kann mir die Lehrerin eine Bewertung darauf geben wenn es für mich ein wunderschönes Bild war?"

Muss denn Kunst immer für die Allgemeinheit gelten?
Ist es nicht der Stolz jedes einzelnen was er geschaffen hat? Ohne Bewertung durch andere?

Hallo minimel!

Denk bitte über Deinen zweiten Satz oben nach. Kann es sein, dass Dein Sohn sich nur deshalb über die Benotung seines Bildes (bei Dir, nicht der Lehrerin) beschwerte, weil er die Note 4 bekam? Hätte er sich auch dann über die Benotung seines Bildes beschwert, wenn er die Note 1 bekommen hätte?

Oder wäre Dein Sohn mit der Bewertung seines Bildes durch seine Lehrerin völlig zufrieden und einverstanden gewesen, wenn seine Lehrerin seine Ansicht geteilt hätte, dass er ein „wunderschönes Bild“ gemalt hätte? Sollte Dein Sohn der Ansicht gewesen sein, dass eine Benotung von durch Schüler gemalter Bilder grundsätzlich unzulässig sei, weil ein Verstoß gegen von Schülern geschaffener „Kunst“, dann müsste er diese Ansicht unabhängig von dem jeweiligen Ergebnis der Bewertung durch den Lehrkörper und schon vor Abgabe seines Bildes an diesen haben (und völlig unabhängig davon, ob seine Lehrerin eine dümmliche und inkompetente Person ist oder was auf dem Kasten hat, also möglicherweise anders ist als viele andere).

Ich halte die Beschwerde Deines Sohnes zwar nicht für ungewöhnlich, in der Sache aber etwas wirr und bequem. Er sagt nicht: Meine Lehrerin ist eine dumme, verbeamtete Kuh und hat von Kunst keine Ahnung, wenn sie mein gutes Bild so verkennt. Er sagt auch nicht: Mein Bild ist gut! Er sagt lediglich: Für mich (!) ist es wunderschön… und redet damit dem puren Subjektivismus das Wort. Allerdings fällt ihm letzteres – dem puren Subjektivismus das Wort zu reden – erst dann ein, wenn seine Lehrerin seine Begeisterung über sein Bild nicht teilt.

Allerdings könnte er ja noch auf diesen Dreh kommen und sich zu dem Standpunkt vorarbeiten, dass Kunst grundsätzlich nicht bewertbar sei (höchstens vom Erzeuger selbst). In diesem Fall gäbe es aber Diskussionsstoff in Eurer Familie, denn Dein Sohn nähme dann einen radikaleren Standpunkt ein als Du selbst: Du fragst nämlich (siehe oben): „Muss denn Kunst immer für die Allgemeinheit gelten?“ Warum schleicht sich hier das Wort „immer“ ein? Darf, soll, muss es manchmal in Sachen Kunst also durchaus einen allgemeinen Maßstab geben und manchmal nicht? Entweder immer oder nie! Wenn Du da anderer Ansicht bist, dann bitte ich um Mitteilung, wann der „Stolz“ des Erzeugers es verbietet, dass wir andere das von ihm Erzeugte beurteilen / bewerten – und wann eine Beurteilung / Bewertung gnädigerweise doch erlaubt ist.

Bedenke bitte außerdem, dass der Subjektivismus (= das Verbot, fremde Kunst zu beurteilen / zu bewerten), dem Du das Wort redest und der angeblich so frei und tolerant ist, das Verbot von Kritik ist – selbst jeder Schrott muss (!) von jedem (!) anerkannt werden. Und jedes üble oder unzulängliche, nichtsagende oder berechnende Machwerk steht auf einmal mit allen anderen künstlerischen Werken, qualitativ anständigen oder gar meisterlichen auf gleicher Stufe! Damit zerrst Du letztere in den ununterscheidbaren Sumpf bloßer Beliebigkeit. Hast Du an diese Kehrseite Deiner Forderung schon mal gedacht: Dass sie jeden Künstler und jede Kunst gleich macht, nivelliert?

Das Bild Deines Sohnes mag gut oder schlecht gewesen sein (oder irgendwo dazwischen), ich weiß das nicht, und auf Urteile von Menschen, bloß weil sie Schullehrer sind, gebe ich nichts. Aber Deine Sichtweise ist (mir) ein Graus. Weil Kunst sich nicht im „Stolz“ eines Künstlers auf das von ihm Geschaffene auflöst. Abgesehen davon sind gerade die ernsthaften Künstler oft genug unzufrieden mit sich und ihren Arbeiten… Altmodisch ausgedrückt, „ringen“ sie um etwas, Jahre, Jahrzehnte, ein ganzes Leben lang. Ich weiß, das klingt heutzutage verquer, so zu formulieren. Und das, was Künstler, die besseren, früher trieb und, wenn sie welche sind, auch heute noch treibt, wäre in der Tat lachhaft und unverständlich, wenn in der Kunst der Sozialismus (die kriterienlose Gleichheit) die Wahrheit wäre.

„Muss denn Kunst immer für die Allgemeinheit gelten?“

Die Kunst, der Künstler will es. Er will, dass das, was er schafft, gehört, gesehen oder gelesen wird, sicher nicht von jedem (im wortwörtlichem Sinn), aber von einem „Du“ (in derselben Stadt, in einem anderen Land oder 30 oder 100 Jahre später), in welchem durch diese Kunst etwas zum Klingen gebracht wird; von einem „Du“, das seine Kunst wahrnimmt, als „wahr“ nimmt, sie in ihrem zum Ausdruck gebrachten Inhalt als etwas über-individuelles Wahres (und Schönes und Gutes) erkennt, und das nicht etwa im schulischen oder akademischen Sinne, sondern im eigenen, unmittelbaren Empfinden (ein Empfinden, das durchaus auch naiv und unbedarft sein darf, durch Übung in der Beobachtung, im Aufnehmen und Wahrnehmen über die Zeit hinweg allerdings auch gesteigert und vervollkommnet werden kann und das auf keinen Fall eines erträgt: das Gebot, alles, was ihm als „Kunst“ so vorgesetzt werden mag, kriterien-, bewertungs- und widerspruchslos als gleichwertig anerkennen zu müssen).

Gruß

Richard


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