Da wir schonmal OT sind... (Schauungen & Prophezeiungen)

Bernhard_Berlin, Donnerstag, 31.05.2012, 15:17 (vor 4353 Tagen) @ BBouvier (4554 Aufrufe)
bearbeitet von Bernhard_Berlin, Donnerstag, 31.05.2012, 15:38

Lieber BB,

es tut mir leid, wenn mein Ton im Beitrag oben nicht angemessen war. Hiermit möchte ich dafür um Entschuldigung bitten.

Zur Sache:

Ich will keineswegs behaupten, dass eine Mehrzahl der modernen Pop-"Kultur"-Produkte hohe Kulturleistungen wären. Bleiben wir bei Musik. Die große Mehrzahl der heutigen Musikprodukte ist sicherlich reine Massenware, die bestenfalls handwerklich solide ist und die in kurzer Zeit in Vergessenheit geraten wird.

Das schließt aber nicht aus, dass es einzelne herausragende Künstler gibt, an die man sich auch in Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten zu Recht erinnern wird.

Aber verhielt es sich im 19. Jahrhundert und früher wirklich anders? Wenn man die bedeutendsten Komponisten europäischer klassischer Musik vom 17. bis 19. Jahrhundert aufzählen wollte, so käme man vielleicht auf 40 bis 60 Komponisten, die es wert sind, erinnert zu werden. Also etwa 15 bis 20 pro Jahrhundert. Allein in Deutschland sind es noch weniger.

Und diese Musik war eine reine Elitenangelegenheit. Wieviele Zeitgenossen Mozarts sind jemals in den Genuss gekommen, seine unsterbliche Musik zu hören? Nur eine kleine Handvoll Adliger und Vertreter des reichen Bürgertums. Wieviel Prozent der Bevölkerung hatten überhaupt Anteil an dieser ernsten Musik? 5%? 10%?

Davon zu sprechen, diese Musik sei unter diesen Umständen ein Ausdruck der "Volksseele" ist schon reichlich absurd: Wenn überhaupt ist es der Ausdruck des Seelenzustandes einer kleinen Elite.

Der Rest, der damals an Musik produziert wurde -- in Ermangelung von Massenmedien wie Radio, Schallplatten und dergleichen -- ist heute weitgehend vergessen: Simple Volkslieder, Tanzmusik von fahrenden Musikern, vulgäre Musik, die in ihrer Qualität und ihrem künstlerischen Anspruch nicht einen Deut über heutige Popmusik-Massenware hinausgeht. Bestenfalls simple Kirchenlieder werden heute noch gesungen bzw. gespielt.

Wenn Du also Bach, Mozart, Beethoven, Wagner et al mit heutiger Popmusik vergleichen willst, dann ist das ein Vergleich von Äpfeln mit Birnen: Eher schon taugt der Vergleich von vulgärer Tanzmusik und Volksliedern des 18. und 19. Jahrhunderts mit der modernen Popmusik -- der Massengeschmack war schon immer stumpf und anspruchslos.

Auf der anderen Seite bin ich sicher, dass es auch im Bereich des Jazz, der Rock- und Popmusik eine Handvoll wirklich bedeutender, talentierter und wegweisend kreativer Künstler im 20. Jahrhundert gab, die nicht in Vergessenheit geraten werden. Wer dies im einzelnen ist und sein wird, können wir heute vielleicht noch nicht ermessen (auch Bach war zu seinen Lebzeiten ja nicht populär, sondern wurde erst beinahe 80 Jahre nach seinem Hinscheiden "wiederentdeckt").

Der einzige Unterschied heute besteht darin, dass die Massenmedien eine weite Verbreitung jeglicher Musik gewährleisten und die Elite nicht länger besteht: Die Grenze zwischen elitärer "ernster" Musik und anspruchsloser Massenmusik verschwimmt. Und in diesem Wust muss man ein wenig mehr suchen, wenn man die wahren Perlen finden will.

Dabei war schon immer nicht alles Gold, was glänzt (auch Mozart und Beethoven haben beispielsweise Musik für ihre adligen Auftraggeber komponiert, die als Hintergrundmusik zum Kartenspiel konzipiert war und doch sehr fatal an "Fahrstuhl-" oder "Kaufhausmusik" erinnert).

Auch was die Qualität der künstlerischen Leistung angeht, so denke ich z.B. nicht, dass so enorm talentierte Künstler des Jazz, wie z.B. Duke Ellington oder Miles Davis, sich hinter Größen vergangener Zeiten verstecken müssen. Natürlich kann man sie nicht direkt mit Komponisten vergleichen, da der Jazz keine notierte Musik ist, aber ihr technisches Können und ihre Schöpferkraft bei der Improvisation sind über jeden Zweifel erhaben.


Und was Deine polemische Auswahl bei den Bildern oben betrifft: Ich könnte Dir jetzt protzige Gemälde von fetten, ungewaschenen und gepuderten Adligen der Barockzeit zeigen, die zur Musik von Händel oder Vivaldi einer Orgie beiwohnen -- und der Ekelfaktor wäre nicht geringer. Das sagt aber nichts über die Qualität der Musik dieser Komponisten aus, ebensowenig wie Deine Bilder oben irgendetwas über die künstlerische Leistung der Musik besagen, in deren Kontext sie stehen.

Auch die fetten Walküren und andere traditionelle Elemente der Inszenierung Wagner-Opern sind wohl enorm groteskt, und Kulturpessimisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben diese Erscheinungen ähnlich abstoßend und befremdlich empfunden, wie Du diese Erscheinungen moderner Musik.

Ich bitte nochmals um Entschuldigung, falls ich Dir zu nahe getreten sein sollte. Es war wirklich nicht persönlich gemeint.

Beste Grüße,
Bernhard


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