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Ein Stück weit inkommensurabel (Freie Themen)

Taurec ⌂, München, Dienstag, 09.03.2021, 08:46 (vor 1160 Tagen) @ detlef (2285 Aufrufe)

Hallo!

Wenn man über das Ende von Zivilisationen (das war die Ursprungsfrage) spricht und sogar schon im Eingangsbeitrag die Wörter "faustisch" und "Spengler" zweimal vorkommen, dann ist maßgebend, was Spengler selbst mit dem Begriff "faustisch" meinte.

  • Hang zum Unendlichen
  • Raum- und Zeitüberwindung
  • Abstraktion, Drang hinter die sinnlichen Dinge
  • Davon ausgehend: ein dynamisches, abstrahierendes Weltbild in Beziehungsgefügen und Funktionen
  • Eben in Anlehnung an Goethes Faust (Spengler verehrte Goethe als eine Säule seines Weltbildes) wissen wollen, was die Welt im Innersten zusammenhält, wobei diese geflügelten Worte bei Spengler meines Wissens nirgendwo zitiert werden. Sie treten aber zwischen den Zeilen als Sinn hervor.

Ich frage mich übrigens, warum Isana Yashiro schon in seinem Eingangsbeitrag und später immer wieder von "faustisch" oder der "faustischen Zivilisation" redet, dann aber schreibt: "Das liegt in unserer Kultur daran, daß die meisten Menschen unserer Kultur kein bißchen faustisch sind. Daher kann eigentlich auch der emergente Charakter des Gesamten kein bißchen faustisch sein."
War ihm denn überhaupt klar, was er selbst damit meint, wenn ihm dann die Erklärung nicht schmeckt?

ich behaupte mal dreist, dass die meisten hier nur sehr verschwommene vorstellungen zu dem begriff "Faustisch" haben.

glaubst du wirklich, dass mehr als zwei oder drei von uns Hanseln hier Goethes Faust nach der schule noch mal gelesen, oder gesehen haben?

Wenn einem Taurec nicht reicht, der er es einem so genau erklären will, wie er nur kann, wird man nicht umhin kommen, Spengler und Goethe selbst zu lesen (mit fraglichem Erfolg).

was ist Faustisch?
ein sich erfolglos fuehlender wissenschaftler?
ein alter bock, der auf junge maedchen steht?
ein typ, der, um sein ziel zu erreichen, einen pakt mit dem teufel schliesst?
ein ehrloser liebhaber, der keine alimente zahlt?

all das hat Goethe beschrieben.

Da Faust für Spengler ein Symbol der Seelenverfassung der Kultur ist, geht es natürlich nicht darum, wer Faust als Person ist, sondern wofür er steht. Deine Aufstellung wirkt, als hätte Goethe mit Faust sich selbst beschrieben, was wohl gar nicht so falsch ist. Goethe hat in den Protagonisten seines Lebenswerkes wohl allzu viel von sich selbst hineingelegt, er war aber ebenfalls ein faustischer Mensch. Es ging ihm wohl kaum darum, eine Charakterposse zu schreiben und sich selbst zu karikieren, sondern sein innerliches Weltbild auszubreiten, in dem Faust (insbesondere seine tiefere Motivation) eben ein Symbol für Züge des menschlichen Wesens ist, die Goethe selbst in sich empfand und ihm in seiner Welt entgegentraten.

Goethe selbst zu Faust:
"Der 'Faust' [...] ist doch ganz etwas Inkommensurabeles, und alle Versuche, ihn dem Verstand näher zu bringen, sind vergeblich. Auch muß man bedenken, daß der erste Teil aus einem etwas dunkelen Zustand des Individuums hervorgegangen. Aber eben dieses Dunkel reizt die Menschen, und sie mühen sich daran ab, wie an allen unauflösbaren Problemen." (zu Eckermann am 3. Januar 1830)

"Da kommen sie und fragen, welche Idee ich in meinem 'Faust' zu verkörpern gesucht. Als ob ich das selber wüßte und aussprechen könnte! – Vom Himmel durch die Welt zur Hölle, das wäre zur Not etwas; aber das ist keine Idee, sondern Gang der Handlung. Und ferner, daß der Teufel die Wette verliert, und daß ein aus schweren Verirrungen immerfort zum Besseren aufstrebender Mensch zu erlösen sei, das ist zwar ein wirksamer, manches erklärender guter Gedanke, aber es ist keine Idee, die dem Ganzen und jeder einzelnen Szene im besonderen zugrunde liege. Es hätte auch in der Tat ein schönes Ding werden müssen, wenn ich ein so reiches, buntes und höchst mannigfaltiges Leben, wie ich es im 'Faust' zur Anschauung gebracht, auf die magere Schnur einer einzigen durchgehenden Idee hätte reihen wollen!
Es war im ganzen [...] nicht meine Art, als Poet nach Verkörperung von etwas Abstraktem zu streben. Ich empfing in meinem Innern Eindrücke, und zwar Eindrücke sinnlicher, lebensvoller, lieblicher, bunter, hundertfältiger Art, wie eine rege Einbildungskraft es mir darbot; und ich hatte als Poet weiter nichts zu tun, als solche Anschauungen und Eindrücke in mir künstlerisch zu ründen und auszubilden und durch eine lebendige Darstellung so zum Vorschein zu bringen, daß andere dieselbigen Eindrücke erhielten, wenn sie mein Dargestelltes hörten oder lasen.
[...] Vielmehr bin ich der Meinung: je inkommensurabeler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion, desto besser."
(zu Eckermann am 6. Mai 1827)

Insofern sich Spengler, der sich selbst mehr als Dichter und Künstler verstand denn als Wissenschaftler, von Goethe inspirieren ließ, hat es vielleicht keinen Sinn, den Begriff des Faustischen und sein Werk im Generellen dem Verstande begreiflich machen zu wollen, weil es immer irgendwelche gibt, deren Kritik nur ihr Unverständnis ausdrückt. Entweder man empfindet mit, was gemeint ist, und versteht es, oder man hat Pech gehabt und steigt nicht dahinter. Dann sind aber alle Worte wohl vergebliche Mühe.

Gruß
Taurec


„Es lebe unser heiliges Deutschland!“

„Was auch draus werde – steh zu deinem Volk! Es ist dein angeborner Platz.“


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