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Alles Leben ist Ringen (Freie Themen)

Taurec ⌂, München, Dienstag, 02.03.2021, 21:58 (vor 1166 Tagen) @ Isana Yashiro (2409 Aufrufe)

Hallo!

Warum heißt der emergente Charakter des Gesamten den einzelnen faustischen Menschen nicht willkommen?

Das war nicht die Aussage. Da vermischst Du Beas und meinen Beitrag. Daß die abendländische Kultur faustische Menschen nicht willkommen hieße, halte ich für ebenso falsch, wie schon als Frage an sich für unsinnig und irrelevant. Das Leben an sich und auch das Leben jeder Kultur bestehen aus inneren Kämpfen. Dynastien, Staaten, geistige und religiöse Bewegungen, Stilrichtungen und Geistesepochen lösen einander ab. Ihre einzelnen Vertreter kämpfen um die Vorherrschaft. Daß der faustische Mensch, der in seiner Kultur zu Hause ist, zugleich auch darin zu Frieden sein müßte, ist eine falsche (und wegen der pazifistischen Haltung späte) Grundannahme.

Daraus folgt, daß Multi-kulti nicht nur funktioniert, sondern noch besser funktioniert als wenn die Angehörigen einer Kultur unter sich blieben.

Mißverständnis. Meine Aussage sollte sinngemäß meinen, daß, wenn man sich z. B. auf der Ebene konkurrierender faustischer Denkrichtungen bewegt, natürlich ein faustisches Weltempfinden als Gemeinsamkeit haben muß, um einander überhaupt nachvollziehen zu können.

Beispiel (womöglich nicht optimal gewählt): Zu Goethes Zeiten galt die Frage nach den physikalischen Gesetzmäßigkeiten des Lichts noch nicht als grundsätzlich entschieden. Neben Newtons Ansatz, der sich letztlich wegen seiner strikt materialistischen Ausrichtung in der modernen Welt durchsetzte, formulierte Goethe in seiner Farbenlehre einen "spirituelleren" Ansatz, der die Entstehung der Farben als Wechselwirkung von Licht und Finsternis begriff und sie hinsichtlich ihrer seelischen Wirkung untersuchte. Im Fortschreiten der Entwicklung des Abendlandes mußte sich Newtons Ansatz wegen der größeren naturwissenschaftlichen Tauglichkeit natürlich durchsetzen. Der gemeinsame Forschungsansatz, nämlich die Brechung des Lichts durch ein Prisma, war allerdings (obwohl das Phänomen bereits in der Antike bekannt war) eine rein faustische Entdeckung. Das richtige Verständnis war nicht möglich, wenn man das Licht wie in der Antike als irgendeine Art Körpers begriff. Man mußte es faustisch-dynamisch in seinen "Bewegungsaspekten", also als Welle begreifen.
Desgleichen gilt für die Gravitation, die kein körperlich definierbares Ding ist, sondern eine Kraft, die auf Körper wirkt. Schon ihre bloße Beschreibung und die Formulierung als Gleichungen gefaßter Gravitationsgesetze setzt das faustische Denken voraus, das die Welt nicht (wie die Antike) als Körper begreift, sondern als dynamisches Beziehungsgefüge von Naturkräften, die auf Körper bzw. zwischen Körpern wirken. Erst auf dieser Grundlage ergeben sich die bis in die Moderne fortdauernden Theoriezwistigkeiten der Physik. Wer dazu keinen Zugang hat, der hat in diesen Streitereien nicht mitzureden, sondern kann nur die gesamte faustische Wissenschaft an sich ablehnen, weil er ihr Weltempfinden als Axiom ablehnt.

Dem entsprechend sind die Konflikte zwischen Kulturen immer sehr viel gröber und grundsätzlicher, von einem systematischen Mißverstehen geprägt. In der Regel läuft es nicht primär darauf hinaus, was der andere (Falsches) denkt, sondern daß er überhaupt da ist und Lebensraum beansprucht. Die Unterschiede im Denken (z. B. zwischen Christentum und Islam oder zwischen modernem Liberalismus und Islam usw.) sind lediglich die Kristallisationspunkte dieses sehr viel fundamentaleren Unterschiedes zwischen den Kulturen, an denen dieser offenbar wird, ohne daß aber in den weltanschaulichen Fragen gegenseitiges Verständnis oder gar Einigung möglich wären.
Durch die inneren Kämpfe einer Kultur werden Fragen entschieden, die zwar zur Verdrängung der einen oder anderen Seite führen, aber im Ergebnis die geistige Entwicklung der Kultur an sich voranbringen. Dahingegen führen Kämpfe zwischen Kulturen nur zur Verdrängung einer der beiden Kulturen aus einem Lebensraum (wie z. B. zwischen Abendland und Osmanischem Reich am Balkan geschehen).

Daß faustische Menschen innerhalb der faustischen Kultur Probleme haben und Feindseligkeiten ausgesetzt sind, widerspricht nicht Spenglers Kulturentheorie, sondern folgt aus ihr geradezu. Alles Leben ist Ringen. Inhaltlich kann eine faustische Idee nur von einem anderen, auf Augenhöhe agierenden faustischen Menschen begriffen und angegriffen werden.
Ein tüftelnder Handwerker aus einer deutschen Kleinstadt, der sich als Erfinder probiert, und ein Philosophieprofessor aus Heidelberg hätten (obwohl beides faustische Menschen wären) einander zwar nichts zu sagen, wären aber nicht spinnefeind, sondern eher gleichgültig. Mit anderen Tüftlern oder Philosophieprofessoren könnten beide aber bittere Fehden ausfechten.
Hingegen hätten beide Arten (Tüftler und Philosophieprofessoren) grundsätzliche und früher oder später potentiell tödliche Probleme mit einem sich ausbreitenden arabischen Bevölkerungsteil, der den Islam als Speerspitze führt.

Widerlegt also jemand die eigene Theorie, dann betrachtet man diesen Menschen nicht als Feind, sondern als jemanden, dem man eine neue Erkenntnis verdankt.

Das magst Du so handhaben, ist aber nicht von der (gemeinsamen) Kultur abhängig, sondern von der persönlichen Reife und dem individuellen Charakter.

Diese Vorgänge sind (als ein Aspekt des Lebens!) im Kern mit Widerstand der Trägheit des Bestehenden und die Überwindung dessen verbunden.


Das liegt in unserer Kultur daran, daß die meisten Menschen unserer Kultur kein bißchen faustisch sind. Daher kann eigentlich auch der emergente Charakter des Gesamten kein bißchen faustisch sein.

Nein, es hat nicht damit zu tun, ob faustisch oder nicht. Alles Leben ist immer ein Ringen, entweder mit sich selbst oder anderen. Dazwischen mag es Phasen der Ruhe geben. Es ist sogar möglich, daß die Kämpfenden einander achten (was eben eine gemeinsame Kultur und Verständnis im Grundsätzlichen voraussetzt) und sich in räumlich und zeitlich begrenztem Rahmen die Hände reichen. An der Grundtatsache des Lebens ändert dies nichts.

Aber falls seit jeher der emergente Charakter des Gesamten nur von einer kleinen Minderheit geformt worden sein soll, dann stößt mir das doch als unlogisch und absurd auf.

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile (das ist nur eine triviale Redewendung als anderer Ausdruck für "Emergenz"). Eigentlich logisch und selbstevident. Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Zellen und Orange. Gleichwohl wäre er ohne diese nicht auf der Welt. Seine Bestandteile wären andererseits ohne dieses emergente "Mehr" nutzlos und tot. Das läßt sich sinngemäß auf die Kultur übertragen: Die einzelnen ihr Angehörenden spiegeln das Gesamte jeweils in einzelnen Aspekten wider, aber keiner ganz! Sie bekommen aber nur durch das Ganze ihren Lebenssinn.
Daß Minderheiten und Eliten prägend sind, ist eine weitere Grundtatsache des Lebens, das – wenn man es mit höherem Leben zu tun hat – immer mit Rangunterschieden verbunden ist. Man führt oder man folgt, man ist Subjekt oder Objekt, Hammer oder Amboß, prägt oder wird geprägt, gewinnt oder unterliegt. Daran läßt sich nichts ändern. Das ist einfach so. Erst in den späten, degenerativen Zeiten des Kulturtodes und Fellachentums werden Regungen stark, die diesen Lebenskampf ablehnen und versuchen, ihn mit Theorien wegzurationalisieren. Dahinter steckt keine Überlegenheit, sondern Lebensschwäche. Sie äußert sich z. B. darin, daß der Masse eine Macht zugesprochen wird, die allerdings als ein Abwehrrecht gegen Zugriffe von Eliten verstanden wird (eine "negative Freiheit") und gegen die wahren Lebensverhältnisse stets zahnlos ist. Diese moderne Lebensschwäche äußert sich auch darin, daß man rückblickend die Kultur verklärt und z. B. verlangt, die in ihr Lebenden hätten von ihresgleichen auch willkommen geheißen werden müssen (die "Friedlichkeit" also zum Lebensideal erhebt), aus dem Nichtzutreffen dessen man irrig schlußfolgert, die Existenz dieser Kultur wäre an sich fragwürdig. Damit bewegt man sich allerdings voll in der selbstmörderischen und selbstvernichtenden Tendenz der Zivilisation, alles Frühere als nichtig abzutun, weil man es gar nicht mehr begreift.

In dem Fall müßte ich dann doch die gesamte Spenglersche Theorie als bei dem Versuch, auf tönernen Füßen zu stehen, eingestürzt ablehnen.

Ich stelle immer wieder fest, daß Ablehnung der Spengler'schen Philosophie an grundsätzlichen Mißverständnissen krankt. Man braucht offenbar eine mit Spengler wenigstens halbwegs übereinstimmende grundsätzliche Seelenhaltung und Auffassung in Lebensfragen. Entsprechend fällt auf, daß die Kritik oft bereits in der Sache am Sinn der Gedanken Spenglers vorbeigedacht ist und ihn gar nicht recht tangiert. Es scheint so zu sein, daß der Kerngedanke seiner Philosophie unwiderlegbar ist. Hat man ihn verstanden, kann man ihn nur anerkennen. Widerlegungsversuche können nicht fruchten, weil ihnen das Verständnis und ergo der richtige Angriffspunkt fehlen, erübrigen sich aber, sobald es vorhanden ist. Die Möglichkeit des Irrens Spenglers in sekundären Aspekten und der Interpretation von Teilen der Geschichte im Lichte seines eigenen Denkens sind davon unbenommen.

Gruß
Taurec


„Es lebe unser heiliges Deutschland!“

„Was auch draus werde – steh zu deinem Volk! Es ist dein angeborner Platz.“


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