Analyse: Der Irak nach den Wahlen
Geschrieben von Swissman am 30. Januar 2005 23:56:05:
Nachdem heute im Irak die seit langem angekündigten Wahlen stattgefunden haben, wird man sie zwangsläufig auch für gültig erklären - es wäre unter den
gegebenen Umständen absolut sinnlos, die Wahl durchzuführen, sie anschliessend aber für ungültig zu erklären. In diesem Fall hätte man die Übung ebensogut von Anfang an verschieben können. Man tat auch gut daran, sich von den wilden Drohungen aufständischer Elemente nicht beeindrucken zu lassen.Es scheint, dass die Wahlbeteiligung recht hoch ausgefallen ist, obwohl der Wahlgang von den Sunniten mehrheitlich boykottiert worden sein dürfte. - In den schlimmsten Aufständischen-Hochburgen dürfte der Wahlgang wohl sogar faktisch ganz ausgefallen sein.
Manche Stimmzettelfetischisten werden daher verlangen, den Wahlgang für ungültig zu erklären. - Dies wäre jedoch alles andere als empfehlenswert: Aus demographischen Gründen (über 60% Schiiten) ist ohnehin klar, dass die künftige Regierung überwiegend schiitisch, mit einem relativ starken kurdischen Juniorpartner, sein wird. Wenn die Sunniten sich deswegen in die Schmollecke zurückziehen, fällt die schiitische Dominanz eben noch etwas deutlicher aus, als dies ohnehin der Fall gewesen wäre. Dies muss man eben zur Kenntnis nehmen. - In einer Demokratie hat der Wähler u. a. ja auch das Recht, sich der Stimme zu enthalten.
Der positive Nebeneffekt ist, dass die Regierung nicht durch Parteien infiltriert wird, die faktisch als legaler Arm des Untergrundes fungieren. Zudem wäre es pädagogisch auch völlig falsch, die sunnitischen Häuptlinge dafür, dass sie offensichtlich nicht willens oder fähig sind, ihre Leute im Zaum zu halten, auch noch mit einem Sitz im Parlament zu belohnen.
Die Frage der sunnitischen Repräsentation in Baghdad kann und muss vielmehr als Zuckerbrot für die gemässigten Sunniten gesehen werden - dieses müssen sie sich aber zuerst verdienen, indem sie den Aufständischen das Wasser abgraben. Solange dies nicht geschieht, ist es sinnvoll, die Sunniten bloss symbolisch einzubinden, die radikalen Elemente aber weiterhin, und noch verstärkt (!) die Peitsche spüren zu lassen.
Irgendwann im Verlauf des Februars wird der Irak über eine schiitisch-kurdische Regierung verfügen. Wie sich diese entwickeln wird, ist derzeit schwerlich abzusehen: Theoretisch denkbar, praktisch aber sehr unwahrscheinlich, wäre eine Theokratie nach iranischem Vorbild. - Das iranische System wird von den irakischen Schiiten, einschliesslich Klerus, zumeist nicht als nachahmenswert angesehen (davon abgesehen würden die USA dies auch kaum dulden).
Tatsächlich haben sich die schiitischen Parteien bereits vor Wochen darauf geeinigt, keinesfalls einen Geistlichen als Premierminister zu ernennen. Interessanterweise zeigen Meinungsumfragen, dass die Idee einer strikte islamisch (in diesem Fall natürlich nach sunnitischer Interpretation) ausgerichteten Theokratie unter den Sunniten auf mehr als doppelt so hohe Zustimmungsraten stösst, wie unter den Schiiten...
Erheblich wahrscheinlicher scheint eine Zivilregierung zu sein, die sich in ihrer Arbeit mehr oder weniger stark von islamischen Grundsätzen leiten lässt, ohne einen "Gottesstaat" im eigentlichen Sinn zu errichten. Kurzfristig scheint eine, zumindest formal, pluralistische, allenfalls sogar säkularistische, Regierung am wahrscheinlichsten (wobei so oder so de facto keine bedeutenden Entscheidungen gegen den erklärten Willen der schiitischen Kleriker durchsetzbar sein werden).
Offiziell kommt der Regierung vor allem die Aufgabe zu, eine Verfassung auszuarbeiten. - Tatsächlich aber erwartet den neuen Premier eine weitaus grössere Herausforderung: Der sunnitisch-wahhabitische Aufstand wird nach den Wahlen natürlich nicht eingestellt, sondern, im Gegenteil, nochmals zusätzlich eskalieren. Aus Sicht der Wahhabiten, die den harten Kern des irakischen Untergrundes bilden, handelt es sich bei der Schi'at Ali um die schlimmste überhaupt vorstellbare Ketzerei - eine Einschätzung, die durchaus auf Gegenseitigkeit beruht.
Historisch waren die Schiiten (zumindest ausserhalb des Irans) immer Verlierertypen, die von Sunniten, in Mesopotamien und an der westlichen Golfküste später auch auch von den Wahhabiten, drangsaliert und geknechtet wurden. Dies wird sich im Irak nun endgültig ändern: Die Schiiten werden unter gar keinen Umständen einen Rückfall in dieses düstere Zeitalter dulden.
Die Wahhabiten sind ohnehin aus religiösen Gründen unerbittliche Todfeinde der Schiiten - eine Verhandlungslösung zwischen diesen beiden Taifas (arab. Taifa: Partei, Kampfgemeinschaft, religiöse Vereinigung, Kirche) ist daher von vornherein vollkommen ausgeschlossen. Bei diesem Kampf geht nur einer von beiden lebend aus dem Ring. Denkbar wäre zu einem späteren Zeitpunkt allenfalls eine Verhandlungslösung mit (gemässigten) sunnitischen Untergrundgruppierungen.
Aus strategischer Sicht gesehen eröffnet sich hierdurch nun eine höchst bedeutsame Entwicklung: Für die Schiiten ist die Lebensfähigkeit dieser Regierung (d. h. die Niederschlagung des derzeitigen Aufstandes!) buchstäblich eine Frage von Sein oder Nichtsein - ja, ihr Interesse an einem Gelingen ist sogar noch weitaus grösser als selbst das der USA: Im Unterschied zu diesen kämpfen die Schiiten im eigenen Land - Kapitulation kann für sie keine ernsthafte Option sein.
Daher werden die USA ab nächstem Monat erstmals über einen militärisch ernstzunehmenden Verbündeten am Golf verfügen (Saudi Arabien und die anderen Öl-Emirate verfügen zwar über gewaltige Erdölfelder - militärisch gesehen handelt es sich jedoch um Eunuchen). - Washington braucht nun nichts weiter zu tun, als psychologisch wenigstens halbwegs geschickt vorzugehen (selbst die Amerikaner sollten dazu in der Lage sein).
Die Anschläge insbesondere wahhabitischer Insurgenten richten sich seit Wochen speziell gegen die Schiiten: Kürzlich wurden sogar zwei persönliche Mitarbeiter Gross-Ayatollah al-Sistanis ermordet. Die zugrundeliegende Absicht war, die Schiiten einzuschüchtern und von den Wahlurnen fernzuhalten. - Tatsächlich haben sie das Gegenteil erreicht und die Schiitenführer bis aufs Blut gereizt.
Als kluge Strategen haben diese sich bislang bewusst zurückgehalten, um die sichere Machtergreifung nicht noch im letzten Moment zu gefährden - wenn die Schiiten aber die Regierung einmal übernommen haben, naht der Tag der Abrechnung: Die Aufständischen werden für ihr Treiben zweifellos noch einen hohen Preis bezahlen.
Die Schiiten wissen überdies ganz genau, dass noch nie ein Krieg in der Defensive gewonnen wurde - die strategische Entscheidung wurde und wird letztendlich immer in der Offensive gesucht und erzwungen (mit dieser Erkenntnis sind Sistani und Co., nebenbei bemerkt, den meisten säuselnden europäischen Politicos, die sich längst mit der Rolle der Graeculi abgefunden haben, meilenweit voraus). - Daher wird die Regierung nach einer angemessenen logistischen Vorbereitung allsbald die Initiative ergreifen und den Kampf in die wahhabitischen Schlupfwinkel im sunnitischen Dreieck zurücktragen.
Das Ausbleiben einer Offensive würde mittelfristig zum Sturz der Regierung oder zum Auseinanderbrechen des Landes in zwei oder drei Einheiten führen. - Eine solche Entwicklung wäre für die irakischen Schiiten, die USA wie auch, zumindest derzeit, den Iran vollkommen inakzeptabel.
Des weiteren haben sich die führenden schiitischen Politiker und Kleriker bereits eindeutig dafür ausgesprochen, dass die US-Truppen einstweilen im Land bleiben sollen. Dies ist jedoch keinesfalls dahingehend zu verstehen, dass die USA auf Dauer in Mesopotamien bleiben sollen: Gross-Ayatollah al-Sistani weiss genau, dass die US-Truppen im Kampf gegen die Franktireure von grossem Wert sein werden und beabsichtigt daher, diese einen guten Teil der Arbeit übernehmen zu lassen. Nicht zuletzt soll den USA nötigenfalls der Schwarze Peter für allenfalls PR-schädigende, aber gleichwohl notwendige Aktionen zugeschoben werden.
Tatsächlich hat es dieser kluge Stratege, der sich auf das Spiel mit mehreren Bällen auf das trefflichste versteht, ja bereits unlängst geschafft, die USA und seinen gefährlichsten innerirakischen Rivalen al-Sadr in eine Lage zu manövrieren, in der die USA sich genötigt sahen, die Milizen seines Intimfeindes als Machtfaktor zu zerschlagen. Dessenungeachtet konnte er sich in der arabischen Öffentlichkeit in diesem Zusammenhang sogar als Vermittler und Friedensstifter positionieren. - Eine wahrhaft respektable Leistung!
Diesmal wird die Sache jedoch etwas anders ablaufen: Einerseits werden die USA zu Recht auf einer substantiellen schiitischen Beteiligung bestehen, andererseits sprechen wir hier von einem Kampf gegen Wahhabiten und Sunniten - die Gefahr, vor den eigenen Leuten als Brudermörder dazustehen, ist hier für den schiitischen Klerus nicht gegeben. Zudem wäre es vom schiitischen Standpunkt her gesehen auch alles andere als wünschenswert, den Triumph über diesen Feind ausgerechnet den USA zu überlassen - vielmehr brennen die Schiiten darauf, endlich Rache für ihre getöteten Glaubensbrüder zu nehmen.
Tatsächlich können und werden die Schiiten einiges an Kapazitäten einbringen, über die USA nicht nicht verfügen: Zum einen besitzen sie, wie übrigens auch der Iran, im Gegensatz zu den USA, über Augen und Ohren am Ort des Geschehens, d. h. über ein (mutmasslich recht leistungsfähiges) Spionagenetzwerk. - Aufgrund der schiitischen Besonderheit der Taquiya (= "Verstellung" - es ist Schiiten ausdrücklich erlaubt, sich zu verstellen, den eigenen Glauben zu verheimlichen und sich sogar als Anhänger einer anderen Religion auszugeben, wenn dies notwendig ist, um das eigene Leben zu retten) gehe ich davon aus, dass die schiitische Führung die Zeit dazu genutzt hat, die diversen Insurgentengruppierungen mit Informanten zu unterwandern.
Die auf diese Weise gewonnenen Informationen sind von absolut unschätzbarem, möglicherweise sogar kriegsentscheidendem Wert!
Möglicherweise sogar noch bedeutsamer ist die Tatsache, dass die Schiiten in der Lage sind, innert nützlicher Frist eine grosse Anzahl kampfbereiter, weltanschaulich geschulter und motivierter, Kämpfer zu mobilisieren. Im Gegensatz zu den Amerikanern sind die Schiiten auch nicht durch eine verweichlichte, stets wankelmütige Öffentlichkeit handicappiert, die dauernd ängstlich auf die Gefallenenzahlen schielt. Der Opfermut der schiitischen Kämpfer ist dem der Wahhabiten zweifellos zumindest ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen.
Wie die Schiiten dürften auch die kurdischen Peschmerga-Kämpfer darauf brennen, sich an den sunnitischen Arabern für jahrzehntelange Unterdrückung, systematische Benachteiligung und Zwangsarabisierung zu rächen.
Allein schon aufgrund ihrer zahlenmässigen Überlegenheit kann die schiitisch-kurdische Dampfwalze, den Widerstand im "sunnitischen Dreieck" wohl durchaus niederwalzen - vorausgesetzt, man gestattet der irakischen Regierung (und den US-Truppen!), ungestört ihre Arbeit zu tun, ohne dabei dauernd völlig unnötigerweise gestört zu werden.
Dass es gelingt, in den nächsten Wochen den Endsieg herbeizuführen, halte ich zwar für ausgeschlossen, die Erzwingung einer Vorentscheidung innert, sagen wir sechs Monaten, scheint jedoch nicht ausgeschlossen. - Geeignete Rahmenbedingungen (d. h. ein hartes, unerbittliches Vorgehen auf breiter Front) vorausgesetzt, könnte es sich sehr wohl als möglich erweisen, die Intensität des Aufstandes auf ein deutlich niedrigeres, im Vergleich zur jetzigen Situation einstweilen akzeptables Mass zu senken. Dessenungeachtet wird der Aufstand aber, da sollte man sich keinen Illusionen hingeben, auch weiterhin auf kleiner Flamme vor sich hinköcheln.
Um die Aufständischen endgültig niederzuwerfen, wird man das "sunnitische Dreieck" mit Vorteil fürs erste unter Quarantäne stellen und dort ein ausgedehntes Informantennetzwerk installieren, um die aufständischen Elemente nach und nach aufzuspüren und zur Strecke zu bringen. - Der Rest ist klassische Polizeiarbeit.
Wenn einmal der Punkt erreicht ist, an dem die Schiiten in der Lage sind, die Aufgabe selbstständig zu Ende zu führen (ein aussagekräftiger Indikator hierfür könnte der ungestörte Erdölexport sein), wird es schliesslich möglich, die US-Truppen Schritt für Schritt aus dem Irak zurückzuziehen (möglicherweise mit Ausnahme von ein oder zwei permanenten Stützpunkten in der Wüste, weitab der Bevölkerungszentren), und den Feldzug doch noch siegreich abzuschliessen.
Ich gehe davon aus, dass George W. Bush ebenfalls auf diese Entwicklung spekuliert.
mfG,
Swissman
- Re: Analyse: Der Irak nach den Wahlen JoeKaiser 31.1.2005 14:17 (2)
- Re: Analyse: Der Irak nach den Wahlen Swissman 01.2.2005 02:57 (1)
- Re: Analyse: Der Irak nach den Wahlen JoeKaiser 01.2.2005 13:33 (0)
- Na wie schön, daß hier endlich wieder jemand einen Endsieg vor Augen hat ..... NoPasaran 31.1.2005 13:51 (5)
- Re: Na wie schön, daß hier endlich wieder jemand einen Endsieg vor Augen hat ..... Swissman 01.2.2005 04:13 (1)
- @Swissman: Bitte weiter politisch unkorrekt bleiben... Der Berliner 01.2.2005 09:29 (0)
- Nicht schlecht.... IT Oma 31.1.2005 18:58 (2)
- Re: Nicht schlecht.... Swissman 01.2.2005 04:18 (1)
- Re: Nicht schlecht.... IT Oma 01.2.2005 12:17 (0)
- Ich glaube nicht an die Intelligenz von George Dabbelju Jack Blues 31.1.2005 05:34 (0)