Re: Paradigmawechsel: Informationszeitalter

Geschrieben von Andreas am 10. Oktober 2003 22:04:07:

Als Antwort auf: Re: Paradigmawechsel: Informationszeitalter geschrieben von HotelNoir am 10. Oktober 2003 20:38:39:

>>Darf ich eine etwas provokante Antwort nach Widdowson geben? Worin besteht die Innovation, dass Millionen freien Zugang zu riesigen Mengen an Pornographie und Unmengen an belangloser Information haben?
>Was denkst Du denn, was Du hier tust? Du tauscht wie ich und viele andere Informationen aus, die uns verändern.
>Gerade das Internet ist nicht derart revolutionär, wie man gemeinhin glaubt - jedenfalls noch nicht. Es stimmt sicher, dass das Wirtschaftsleben eine gewisse Beschleunigung erfahren hat und somit von einem graduellen Wandel die Rede sein kann. Jedoch haben sich die Prinzipien dieses Wirtschaftens wohl nicht fundamental verändert. Gerade der Absturz der New Economy zeigt doch, dass wir noch immer mit Wasser kochen. Wer meint, dass "Produktions-" oder "Industriezeitalter" habe keinerlei Know-How vorausgesetzt - und das suggeriert m. E. der Begriff "Informationszeitalter" für mich - der spielt die Errungenschaften dieser Epoche m. E. massiv herunter.
>Ich weiss nicht wem Du das unterstellen willst, ich jedenfalls spiele kein Zeitalter herunter.
>>Wenn der Strom ausfällt, dann nützt uns auch die beste "Informationstechnologie" alleine nichts. Wenn Attentäter beschliessen, ein Flugzeug in ein Hochhaus zu fliegen, vermag auch die "Informationstechnologie" alleine nichts dagegen auszurichten.
>Im 16. Jahrhundert hättest Du Deinen Ausführungen zufolge zu denen gehört die gesagt haben: Was nützen uns Bücher!
>Es ist wohl wahr, dass dank der elektronischen Revolution in Military Affairs (RMA) so militärische Disparitäten wie noch selten zuvor in der Weltgeschichte zwischen zahlenmässig ähnlich starken Gegnern aufgetreten sind (Bsp.: Highway of Death von Kuwait City nach Basra). Die Chinesen haben diesbezüglich ihren Rückstand sehr wohl registriert und arbeiten verzweifelt daran, ihn zu mindern. Genauso wie die gezogenen europäischen Kanonen des 18. Jahrhunderts den schweren chinesischen Geschützen - die Chinesen hatten soviel ich weiss das Schiesspulver vor den Europäern erfunden - überlegen waren, genauso ist denkbar, dass uns die Chinesen irgendwann überholen werden. Japan stellte bis vor kurzem angeblich wichtige elektronische Bauteile für die amerikanischen F-15-Jäger her. Worauf ich letztendlich hinauswill:
>>1. Der Innovationssprung infolge der neuen Technologien hat zwar im wirtschaftlichen und militärischen Feld zu gewissen Veränderungen geführt, wird m. E. im Vergleich zu früheren Innovationen, etwa dem Auto, dem Flugzeug oder dem Düsentriebwerk, der Atomkraft, massiv übertrieben.
>>2. Es gibt m. E. qualitativ nichts besonderes am Informationszeitalter.
>Der Begriff In-forma-tion bedeutet ein Input, der die Form verändert.
>
>Deine Optik ist offensichtlich ausschliesslich auf Ergebnisse materieller Art gerichtet. Genau wie ein Bauer des 16. Jh. nicht nachvollziehen konnte, was ein Buch seinem Hof bringt.
>Grüsse HotelNoir

>Auch in der Informationsgesellschaft und im 21. Jahrhundert wird Naturwissenschaft nach den gleichen rational-kritischen Prinzipien betrieben wie es schon immer getan wurde. Andere Länder lernen mit und dazu und einige werden "uns" vielleicht auch überholen - und "uns" (dem Westen) vielleicht einmal dreifach heimzahlen, was wir ihnen in der Vergangneheit angetan haben (?).
>>Gruss
>>Andreas

O.K., ich sehe worauf Du hinaus willst. Ich möchte einmal wiederholen, dass meine scheinbare Sturheit nicht mit Uneinsichtigkeit oder "Aggressivität" zu verwechseln ist. Ich liebe die Diskussion und das Argumentieren um einen Standpunkt, doch ich bin bereit, mich geschlagen zu geben, wenn ich einsehe, dass ich unrecht habe. Ich gebe erstmal zu, dass die ganze Informationsrevolution sicher nicht mein "Spezialgebiet" ist - weder in technischer noch in kultureller Hinsicht.

Zu einem gewissen Grade sind Deine Einwände berechtigt. Es stimmt, dass die Erfindung der Schrift, des Papiers und später des Buchdruckes die Voraussetzung für Wissenschaft und die industrielle Revolution waren. Die Kulturtechnik des Lesens und Schreibens ermöglichte schon seit jeher den Aufbau einer Bürokratie und einer modernen Armee, den raschen Austausch und die Speicherung von komplexen Informationen. Ich weiss nichts über den Alphabetisierungsgrad der verschiedenen Gesellschaften über die Zeit aber sehr wahrscheinlich dürfte die sukzessive und grossflächige Alphabetisierung der westlichen Gesellschaften im 18. und 19. Jahrhundert einen entscheidenden Einfluss auf die Fähigkeit zur globalen Machtprojektion der betreffenden Länder gehabt haben.

Doch wie sieht es heute aus? Wie die PISA-Studie gezeigt hat, beherrscht in Deutschland und der Schweiz ein grosser Anteil der jungen Menschen die Kulturtechniken Rechnen, Lesen und Schreiben in eher zweifelhaftem Masse. Jeder kann einen Computer "anmachen" und surfen, die ganze Welt schwafelt über das Internet, doch wieviele von uns verstehen wirklich, wie diese technischen Systeme funktionieren? Du kannst natürlich einwenden, dass etwa im 19. Jahrhundert auch nur James Watt und ein paar andere Gelehrte wirklich begriffen hätten, wie die Dampfmaschine funktioniert, während das "gemeine Volk" nichts von Physik verstand. Dennoch bleibt es eine wenig beruhigende Tatsache, dass heute ein nicht geringer wenn nicht sogar wachsender Teil der Bevölkerung weder das technische Verständnis noch den Umgang mit den neuen Technologien lernt, ja sogar die alten Kulturtechniken ver-lernt. "Weiche" Fächer wie Medienwissenschaften und "cultural studies" haben massenhaften Zulauf während die "harten" Fächer wie Mathematik und Physik teilweise über Nachwuchsprobleme und Desinteresse klagen.

Ich gebe zu, dass ich selbst mit Geschichte ein Fach studiere, die sich - leider [für mich angesichts meiner miserablen mathematischen Fähigkeiten jedoch Gott sei dank] - erfolgreich dagegen gewehrt hat, eine harte empirische Disziplin zu werden und stattdessen ein "weiches", mehrheitlich deskriptives Fach geblieben ist. Auch sind die Computertechnologie und der Begriff "digital" für mich ein Buch mit sieben Siegeln; vielleicht unterschätze ich wirklich die Bedeutung der Informationsrevolution und ich wäre in der Sowjetunion der 30er Jahre mit ihrer kruden "Tonnenideologie" besser aufgehoben als im "Informationszeitalter". Was mich indessen an Deiner Argumentation "stört" ist folgendes:
a) Du hebst den Begriff "In-forma-tion" zwar schön hervor und erklärst ihn ethymologisch, gehst jedoch nicht auf meine bisher vorgebrachten Argumente nicht gross ein, die da wären:
- Der Begriff Information ist überaus schwammig. Allein die grössere (Zirkulations-)Menge an teilweise fragwürdiger Information will nichts besagen. Nur weil das Wort "Informationszeitalter" schön klingt, wohnt ihm keine besondere "Magie" inne. Wohllingende Worte allein - wie etwa "Paradigmawechsel" - sind in Ermangelung eines argumentativen Korsetts ebenfalls wenig geeignet, mich zu beeindrucken.
- Nicht nur die Kulturtechniken an sich (wie die Schreibfertigkeit u. Lesefertigkeit -> Bürokratie etc.), sondern auch ihre technischen Anwendungen (das Rad, der Verbrennungsmotor, der Rechenapparat etc.) führen letztlich zu Innovation.
- Von der Informationsrevolution werden auch die anderen Zivilisationen profitieren. Die Welt wird nicht stillstehen. Der verstärkte globale Austausch wird trotz aller militärischer Geheimhaltung dafür sorgen, dass auch China, Indien, Japan und andere Länder aufholen. Wer meint, wir hätten uns diesbezüglich einen dauerhaften Vorsprung gesichert, der irrt m. E.
- mit dem letzten Punkt zusammenhängend: Auch im Bereich der Informationstechnologie verläuft die Forschung nach rational-wissenschaftlichen Kriterien. Es gibt keine "Wunder", allenfalls unentdeckte Gesetze.

Gruss
Andreas





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