Zusatz zu China - Modernisierung und Revolutionstheorie
Geschrieben von Andreas am 04. Oktober 2003 01:32:09:
Als Antwort auf: Zustimmung und viel geopolitischer Senf geschrieben von Andreas am 04. Oktober 2003 00:27:51:
Was völlig unerwähnt blieb ist die innenpolitische Situation Chinas. Man hört oder liest immer wieder das politische System wäre eher früher denn später dem Untergang geweiht. Ich behaupte: Es ist nicht das primäre Problem, dass eine kommunistische Regierung an der Macht ist, das Problem ist von fundamentalerer Natur. China macht eine Phase des wirtschaftlichen Wachstums durch. Die Geschichte hat gezeigt, dass sich Revolutionen oft dann ereignen, wenn in einer solchen Phase des langfristigen Aufschwungs plötzlich ein kurzfristiger "Dämpfer" in Form einer Rezession oder einer Kriegsniederlage kommt. Ich beziehe mich hierbei auf die Ausführungen eines gewissen James Davies. Davies postuliert, dass parallel mit der Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungendie Erwartungen der Menschen steigen. Kommt es in dieser Phase zum "Dämpfer" folgt eine bodenlose Enttäuschung und Angst, die Hoffnungen nicht umsetzen zu können (bildlich dargestellt ergibt sich hieraus die J-Kurve, bei der die Erwartungsgerade über die sich kurzfristig absenkende Wachstumskurve hinausschiesst). Um mit Widdowson zu sprechen könnte man auch von einer kurzfristigen, verheerenden Divergenz zwischen der Wahrnehmung und den "fundamentals", der Realität, reden.
So war es etwa im Falle Frankreichs und Russlands, behauptet Davies. Ob wirtschaftliche Modernisierung zwanglsäufig auch politische Modernisierung, d.h. Erweiterung der bürgerlichen Rechte nach sich ziehen muss, dass ist angesichts des deutschen und italienischen Sonderwegs aber auch im Lichte der russischen Entwicklung bekanntlich nicht so sicher. Deshalb sage ich, dass wenn es einmal krachen sollte, es zu leicht ist, der kommunistischen Partei alle Schuld in die Schuhe zu schieben, wenngleich. Ich bin weiss Gott kein Kommunist, doch diese Erklärung wäre oberflächlich. Genauso gut könnte es sein, dass eine demokratische Regierung durch ein autoritäres Regime hinweggefegt würde. China hatte zwar schon eine Revolution, doch es ist gut denkbar, dass noch eine folgen wird, wenn die breiten Massen voll vom Modernisierungsprozess erfasst werden.Laut dem Ökonom Mancur Olson sind Revolutionen generell in Zeiten rapiden Wandels zu erwarten - also theoretisch auch während eines Abschwungs. Er beschreibt in einem Aufsatz indes vor allem die Implikationen des Wachstums. Theoretisch wäre aber für mich auch denkbar, dass es in unseren europäischen Gesellschaften zu revolutionsartigen Zuständen kommen wird. Wenn die in den 80er und 90er Jahren geborenen Menschen realisieren, dass ihre hochtrabenden Erwartungen sich nicht erfüllen werden, ja alles nur noch schlimmer zu werden droht, wer weiss, was dann geschieht. Dazu müsste sich die Lage allerdings noch wesentlich verschlechtern, langsame Stagnation reicht nicht aus, es muss rapide bachab gehen. Der Mittelstand müsste betroffen sein, sind es zumeist doch in den seltensten Fällen die Unterschichten, die eine Revolution organisieren.
Mich beschleicht die Ahnung, dass bei genügend schlechter Situation es sehr schnell zu Ende sein könnte mit der demokratischen Staatsform. Schon jetzt ist ein deutlicher Verdruss gegenüber dem scheinheilig kaschierten Interessenhickhack im Rahmen der Parteienlandschaft zu spüren. Es könnte also theoretisch die paradoxe Situation eintreten, dass während China versucht eine Demokratie nach formal westlichem Vorbild einzurichten wir unsere Demokratien abschaffen (dann wäre indes auch die Vorbildwirkung weg).Allerdings wird uns keine Revolution vor dem unvermeidlichen Schicksal bewahren können. Es wird nicht ein paar Monate oder Jahre Krach geben, um dann alles unter ein paar munteren Parolen und neuen Köpfen in geregelten Bahnen weiterzulaufen. Die strukturellen Probleme werden noch da sein. Revolutionen für mich ein Indiz dafür sein, dass wir definitiv über unseren Zenit hinaus und auf dem absteigenden Weg in ein Dark Age sind.
Gruss
Andreas
- Zusatz zum Zusatz Andreas 04.10.2003 02:00 (2)
- Re: Zusatz zum Zusatz BBouvier 04.10.2003 11:49 (0)
- Re: Zusatz zum Zusatz katzenhai2 04.10.2003 02:07 (0)