Zustimmung und viel geopolitischer Senf
Geschrieben von Andreas am 04. Oktober 2003 00:27:51:
Als Antwort auf: Baddy würde Bullshit dazu sagen :-) geschrieben von Fred Feuerstein am 03. Oktober 2003 22:22:38:
>>Ich denke, daß die Zunkunft in verschiedenen Bahnen abläuft. Bis zu einem >bestimmten Knotenpunkt ist sie in festen Bahnen. Ab dem Knotenpunkt verläuft >Sie je nach Geschehnis in die eine oder andere Richtung.
>Hallo Beobachter,
>So läuft das einfach nicht. Es gibt keine Knotenpunkte, ab der die "Geschichte" auf ein anderes Gleis fährt. Die geopolitische Zukunft ist fest, zu diskutieren ist nur, ob es Menschen gibt, die zuverlässig Bilder dieser festen Zukunft sehen können, oder nicht. Das ist unsere Schwierigkeit, die Spreu vom Weizen zu trennen. Jetzt hinzugehen, und zu sagen alles ist doch Friede, Freude, Eierkuchen, deshalb muß sich die Zeitlinie geändert haben: Mein Kommentar: red bullshit.
>Wenn in Rußland geputscht wird, möchte ich mal wissen was hier im Forum los ist, hat sich dann die Zeitlinie wieder geändert? ;-))
>Ohne Deinem Vorredner zu nahe treten zu wollen möchte ich Dir zustimmen. Viele Entwicklungen sind absehbar wenngleich natürlich Einzelereignisse und noch viel weniger ihre genauer Zeitpunkt nicht prognostiziert werden können. Aber genauso wie einige britische Politiker bereits am Ende des 20. Jahrhunderts wenn nicht das Ende des Empires so doch das Aufholen der anderen Grossmächte bemerkten, so wissen wir heute genauso, dass wenn alles mit rechten Dingen zugeht, China im Jahr 2020 die zweitgrösste Volkswirtschaft der Erde sein wird (bei einer Annexion Taiwans könnte es sogar die grösste sein.).
Schwieriger ist zu sagen, wie sich die militärischen Fähigkeiten Chinas bis dahin entwickelt haben werden. Die Streitkräfte befinden sich in einem gewaltigen Reformprozess. Obwohl im Vergleich zu den 50er Jahren grosse Fortschritte erzielt wurden, hinkt das Land dem Westen immer noch meilenweit hinterher. Die Fähigeit zur raschen Verlegung substantieller Kräfte zu Luft und zu Wasser über weite Distanzen innert kurzer Zeit sind wenn überhaupt vorhanden schwach ausgeprägt. Über die Fähigkeit der Teilstreikräfte im grösserem operativem Rahmen zusammenzuwirken steht ebenfalls ein grosses Fragezeichen. Und schliesslich besteht trotz angestrengter Bemühungen in den vergangenen Jahrzehnten immer noch das Problem, dass die Entwicklung von eigenen Waffensystemen nur geringe Fortschritte macht, was insbesondere im Bereich der Militärluftfahrt aber auch beim U-Boot-Bau der Fall ist.
China ist deshalb in hohem Masse auf fremde Hilfe angewiesen. Diese kam in der Vergangenheit primär aus Russland, ich frage mich jedoch wie lange die finanziell bedrängten europäischen Länder der Versuchung widerstehen werden, dem weitabgelgenen und für uns scheinbar unbedrohlichen Reich der Mitte hochentwickelte Waffen oder Systemkomponenten zu liefern. Freilich verfügt China bereits heute über ein nicht zu unterschätzendes nukleares Arsenal, was dem Land die gehörige Beachtung auf dem politischen Parkett einbringt. Eins ist für mich klar: China wird die USA um 2020 nur dann ernsthaft herausfordern können, wenn neben sprunghaften Fortschritten innerhalb der chinesischen Streitrkräfte gleichzeitig eine massive Schwächung der amerikanischen Militärmaschinerie eintritt. Ich denke das stets an den Niedergang des britischen Empire zurück. Einmal hatte London das Ziel, eine Flotte zu haben, die doppelt so gross war wie jene der beiden nächstgrossen Rivalen zusammen. Ich weiss nicht wann dieses Ziel gesteckt wurde und wann es aufgegeben werden musste. Was ich allerdings weiss ist, dass die berüchtigte englische Appeasement-Politik gegenüber Hitlerdeutschland nach dem Ersten Weltkrieg auch ein Reflex der desaströsen Finanzlage des Empires war. Chamberlain wollte um jeden Preis einen neuen Krieg vermeiden, wusste er, dass dieser das Empire in den Ruin treiben würde. Wie wir alle beobachten können, steht es um die finanzielle Gesundheit Amerikas nicht zum Besten. Es wird weit mehr importiert als exportiert, die neuen Rüstungsausgaben haben das Budgetdefizit in astronomische Höhen getrieben. Die Aufrechterhaltung der amerikanischen Vorherrschaft wird kostspielig bleiben - ob mit oder ohne Irak. Unruhen im Innern könnte zu einem Rückzug der Supermacht führen.
Die Entwicklung Russlands ist schwieriger einzuschätzen. Man hätte dieses ewig rückständige Land gern abgeschrieben und zu denjenigen Regionen gezählt, welche zusammen mit Afrika den Weg ins Dark Age weisen. Schon Hitler meinte vor dem Angriff auf die Sowjetunion man müsse nur das morsche Tor auftreten und dann würde die ganze verrottette Struktur zusammenfallen. Doch Totgesagte leben länger und gerade just zeichnet sich auf den russischen Märkten ein Silberstreif am Horizont ab. Ich als Laie kann die Möglichkeiten dieses Landes nicht abschätzen. Was aus Widdowsonscher Sicht trotz aller Kriminalität und Probleme gegeben ist, ist ein hohes Mass an politischer Integration. Wer nicht pariert, der bekommt wie seit eh und je die ganze Härte der Staatsmacht zu spüren, es wird nicht wie bei uns lange um den heissen Brei aus Menschenrechten und individuellen Freiheitsrechten getanzt. Wirtschaftlich gesehen dürfte das Land aufgrund seiner Rohstoffe mittelfristig eine gute Ausgangslage haben. Zudem dürfte die soziale Kohäsion in Russland trotz
Einführung der Marktwirtschaft vielerorts noch grösser sein als im Westen. Was auch immer geschehen mag, angesichts seines Arsenal an nuklearen Langstreckenrakten wird Russland auf absehbare Zeit stets ein Minimalgewicht im internationalen Gleichgewicht der Kräfte haben und einen bestimmten Teil amerikanischer Wachsamkeit absorbieren.Zunehmend als Störfaktoren wirken aufgrund ihrer atomaren Fähigkeiten Pakistan und Indien. Bis in spätestens zehn Jahren dürfte der Iran dazuzurechnen sein. Ab diesem Augenblick, der eine Signalwirkung auf die gesamte Region haben wird, wird sich Israel mehr zurückhalten müssen. In demographischer Hinsicht dürfte es schon bald mit dem Rücken zur Wand stehen und ich weiss beim besten Willen nicht, welche friedliche Lösung es für das Palästinenserproblem geben soll. Die Region wird eine reges Tätigkeitsfeld amerikanischer Aussenpolitik und möglicherweise militärischer Einsätze bleiben, zumal niemand sagen kann, was Israels arabische Nachbarstaaten - trotz aller Differenzen zwischen Sunniten und Schiiten - im Schatten einer iranischen Atomwaffe dereinst zu unternehmen gedenken.
Nicht vergessen werden darf natürlich Nordkorea. Wenn dieses Land nicht direkt vor seiner Haustür läge, hätte China wahrscheinlich seine helle Freude daran, zieht es doch mit seiner erzstalinistischen Ideologie ein nicht unbeträchtliches Mass amerikanischer Paranoia auf sich. China befürchtet infolge eines nordkoreanisch-amerikanischen Konflikts eine regionale Destabilisierung in seiner unmittelbaren Nähe. Gleichzeitig ist es wenig an einer Fusion des militärisch hochgerüsteten Norden mit dem wirtschaftlich potenten Süden interessiert. Auch hier hat Amerika historische Verpflichtungen, wenn es denn einmal brennen sollte. Es fragt sich, wie lange die Musterindustrienation Japan dem Treiben noch zuschauen wird, bevor es die Welt vor vollendete Tatsachen stellt und seine eigene Atomstreitmacht aufbaut. Mit zunehmender Schwäche der USA wird diese Option immer wahrscheinlicher. Dieser Schritt würde angesichts der Greueltaten, die Japan im Zweiten Weltkrieg auf chinesischem und koreanischem Boden begangen hat, von beiden Ländern als direkte Herausforderung angesehen.
Noch ist Amerika mit seinen Hunderten von Flugzeugen und seinen dreizehn(?) Trägerkampfgruppen (von denen allerdings nie alle gleichzeitig auf See sind) die dominante Weltmacht. Doch das internationale System wandelt sich rasch zu einem multipolaren. Immer mehr werden die USA auf die Kooperation oder zumindest die stillschweigende Indifferenz anderer Mächte angewiesen sein. In Asien wird sich bald schon ein ähnliche Situation abzeichnen, wie wir sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa hatten: Es stehen sich zahlreiche hochgerüstete Mächte (primär: Indien, Russland, China, Japan, Nord- und Südkorea) in einem hochkomplexen Geflecht von Konfliktlinien, Bündnissen und Interessen gegenüber. Das Ziel und letztendlich das Dilemma der künftigen US-Aussenpolitik wird darin bestehen, ankämpfend gegen den relativen Niedergang seine Glaubwürdigeit, die Zuverlässigkeit der amerikanischen Schutzmacht zu demonstrieren ohne dadurch in eine für sich oder die jeweilige Region potentiell verheerende Konfronation gesogen zu werden. Zwar wäre eine direkte Konfrontation für China mit den USA natürlich vorderhand töricht, doch sein Druckpotential auf die amerikanischen Schützlinge Japan, Südkorea und Taiwan ist verheerend und wächst mit jedem Tag. Zwar stellt der Iran für die USA keine reale militärische Bedrohung, doch wird er in der Lage sein, Druck auf Israel und damit indirekt auf amerikanische Interessen auszuüben.
Um zum Ausgangskontext zurückzukehren. Prophezeiungen und Channelings sind schön gut. Mir persönlich sind nüchterne Prognosen und Abwägungen lieber.
Gruss
Andreas
- Zusatz zu China - Modernisierung und Revolutionstheorie Andreas 04.10.2003 01:32 (3)
- Zusatz zum Zusatz Andreas 04.10.2003 02:00 (2)
- Re: Zusatz zum Zusatz BBouvier 04.10.2003 11:49 (0)
- Re: Zusatz zum Zusatz katzenhai2 04.10.2003 02:07 (0)