Missverständnisse

Geschrieben von franke43 am 19. August 2005 08:21:26:

Als Antwort auf: Eine kleine Nachtmusik geschrieben von Backbencher am 18. August 2005 18:34:23:

Hallo

>>Als Klassikfreund und werdender Berufsmusiker
>>würde ich Mozart noch gern gehörig abfeiern,
>>bevor dann mit allem Guten und Schönen
>>zappenduster ist.
>..und ich würde noch gern den 100. Jahrestag der besonders Guten und Schönen, nämlich unter anderen und beispielshaft Miles Davis, Ray Charles oder Jimi Hendrix, in aller Normalität erleben. Es würde reichlich 50-, 100-, 150-, 200-, 250-Jahrfeiern geben, die wir nochmals gerne zu heutigen Bedingungen erleben wollten.
>Übrigens ließen sich diese besser 'abfeiern', da diese alle Zellen des Körpers, auch den Bewegungsapparat, stimulieren.
>Ich denke der Jazz hat einen vielmals stärkeren Siegeszug über alle Welt >genommen, als z.B. Mozart. Dies liegt daran, daß er alle archaischen und >universalen Elemente der Musik integriert hat - Trommeln, Rhythmus, >Körperlichkeit, Sex, Lebensfreude, Trauer - und weitaus weniger sublimiert als >die europäische Klassik.
>Tja...

Könnte es sein, dass Du eine veraltete
"karamalzische" Auffassung von der klassischen
Musikepoche hast ? Geprägt durch hoffnungslos
veraltete Protzveranstaltungen wie die Salzburger
Festspiele ?

Körperlichkeit, Sex und Verführung bei Mozart:

"La ci darem la mano ...."
(aus Don Giovanni)

Rhythmen, Betonung des Tanzes:

Mozart hat in seinen letzten Jahren als
k+k Kammerkompositeur serienweise fetzige
Tänze für Bälle und Redouten geschrieben.
Manche sind schon so schwungvoll wie
später die Johann-Strauss-Walzer. Das
waren nicht nur steife Menuette für den
rituellen Hoftanz.

Lebensfreude bei Mozart:

Die meisten seiner Werke sind die reine
Lebensfreude, sozusagen "komponiertes
Licht" ähnlich wie bei Vivaldi.

Trauer bei Mozart:

Naja das Requiem ist ein Fragment geblieben
und wurde erst von Süssmayer fertiggestellt.
Aber ich könnte Dir langsame Sätze zeigen,
die eine sehr tiefe Trauerstimmung beinhalten.
Ausserdem gibt es auch noch die maurerische
Trauermusik, geschrieben für Mozarts Loge.

Und was die Improvisation angeht, die im
Jazz ja das Grundelement darstellt:

Die Barockmusik war weitgehend Improvisations-
musik ganz ähnlich wie der Jazz, und viel
von dieser Tradition war zu Mozarts Zeit
immer noch lebendig. Mozart soll 1790 bei
der Kaiserkrönung von Franz II in Frankfurt
die Solostimme seines "Krönungskonzerts"
KV-537 vollständig improvisiert haben.
Aufgeschrieben waren nur die Orchester-
stimmen (das "ripieno").

Die neuere Musikforschung hat festgestellt,
dass die Musikkultur in Barock und Klassik
ganz anders ausgesehen hat als uns im
Musikunterricht in der Schule beigebracht
wurde. Und die neuere Interpretenschule
("historische Aufführungspraxis") versucht
genau das wieder zum Leben zu erwecken.

Ich selbst war erst vor einer Woche hier
in Nyköping auf einer 6-stündigen Jazz-
veranstaltung und habe das nicht bereut.

Die Entscheidung Klassik/Jazz ist ja keine
Wahl entweder-oder. Und kaum ein Musiker
ist bei vielen Jazzern so beliebt wie -
ja nicht gerade Mozart, aber stattdessen
der alte Johann Sebastian Bach. Auch Mozart
hat Bach sehr geschätzt.

Und überhaupt:

Zu Mozarts Zeiten hat es noch keine
Trennung in apollinische Kunstmusik und
dionysische Unterhaltungsmusik gegeben.
Praktisch alle Musiker haben beides gemacht,
auch Mozart. Die Trennung ist erst in der
Spätromantik entstanden, also ab 1850.

Gruss

Franke


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