Demokratie, Disziplin, Krisensituation - was lehrt die Geschichte ?

Geschrieben von Odin am 23. Mai 2006 10:46:39:

Odin am 23. Mai 2006 10:46:39:

Als Antwort auf: vorbereitung teil 27/18715ab: DIE GRUPPE geschrieben von schlumpf am 22. Mai 2006 12:13:56:

Hallo

Die Geschichte lehrt uns Positivbeispiele zur Bemeisterung
von existentiellen Krisensituationen.

Die Römer kannten in der Zeit der Republik bekanntlich das
Amt des Diktators. Dieser Diktator ist nicht gleichzusetzen
mit modernen selbsternannten Alleinherrschern. Jeder, der
in der Schule über die Staatsverfassung der frühen Republik
etwas gehört hat weiss, dass das Amt des Diktators nur im
äussersten Notfall besetzt wurde und auf ein halbes Jahr
begrenzt. Nach Ablauf des halben Jahres hatte der Diktator
vor dem Senat und dem Volk Rechenschaft über seine Amts-
führung abzulegen - insbesondere ob er die Krise bemeistert
hatte oder nicht. Erst in den Zeiten der späten Republik
verkam dieses Amt zur modernen ständigen Diktatur, und
schliesslich machte man einen erbmonarchischen Titel
daraus ("Kaiser").

Während der Diktatur aber hatte der Diktator die absolute
Befehlsgewalt über alle und jeden ohne jegliche Begrenzung,
und wer nicht gehorchte war Hochverräter.

Wie die griechische Demokratie in der Praxis funktionierte,
das kann man in Xenophons Roman "Anabasis" nachlesen, den
ich sehr empfehle:

Eine griechische Söldnertruppe von etwas mehr als 10000
Hopliten (schwere Infanterie) hatte sich in den Dienst
eines aufrührerischen persischen prinzen gestellt, der
seinen Bruder vom Thron stossen wollte. Es kam im heutigen
Irak (!) zu einer Entscheidungsschlacht, in der die Armee
der Aufrührer verlor und sich auflöste. Die Griechen aber
waren die Elitetruppe gewesen und hatten an ihrem Front-
abschnitt gesiegt. Nun standen sie als unbesiegter, aber
formierter Truppenkörper auf dem Schlachtfeld herum,
umzingelt von der riesigen Übermacht der siegreichen
Armee des persischen Grosskönigs.

Was geschah ?

Erst versuchten sie um freien Abzug zu verhandeln und
gerieten in eine Falle, in der die griechischen Unter-
händler schlicht umgebracht wurden. Der persische König
glaubte damit werde sich die griechische truppe auflösen
und auf Gnade und Ungnade dem Sieger ausliefern.

Im Gegenteil:

Die Hopliten hatten in einem riesigen Viereck nach aussen
hin Gefechtsstellung eingenommen und hielten innen einen
Rat ab. In dem wurden - mitten vor dem Feind - neue
Anführer demokratisch (!) gewählt, denen bedingungsloser
Gehorsem geleistet wurde. Diese schafften es die Armee
mitten durch die Feinde in Schlachtordnung herauszuführen,
und das über Hunderte von Kilometern, bis die Sieger die
Verfolgung aufgaben und den Abzug der Griechen nur noch
aus der Ferne überwachten.

Den Griechen gelang es fast ohne Verluste das persische
Gebiet (das sehr gross war) zu verlassen und in Armenien
die griechischen Kolonien am Schwaren Meer zu erreichen,
von wo sie zu Schiff in die Heimat fuhren. Über 90 %
der Armee überlebten.

Immer wenn eine Krisensituation eintrat, wurde ein Kriegs-
rat gehalten, auf dem jeder frei reden durfte. Was dann
gemaeinsam beschlossen wurde, war Pflicht für alle bis
zum nächsten Kriegsrat.

Die unwahrscheinliche Leistung - einer riesigen Übermacht
des Gegners aus der Tiefe des gegnerischen Landes fast
unbeschadet zu entkommen - wollte Xenophon der Nachwelt
mitteilen. Der Roman ist ein Lobgesang auf die Demokratie
in Notsituationen - vorausgesetzt jeder hält sich dann
an die Beschlüsse der Mehrheit.

Gruss

Odin



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