Lesenswertes Interview
Geschrieben von Andreas am 30. März 2003 22:02:20:
Als Antwort auf: Saddam's Plan for Victory geschrieben von Andreas am 30. März 2003 17:52:25:
Quelle: http://www.nzz.ch/2003/03/30/al/page-article8RNMP.html
«Die Alliierten wären verletzlich»
Edward N. Luttwak über die Kriegführung im Irak, Kräfteverhältnisse und die «komplexe Logik» der Strategie
NZZ am Sonntag: Die Alliierten haben sich sehr schnell auf Bagdad zubewegt. Nun sieht man, dass die Flanken verwundbar sind. War das ein einkalkuliertes Risiko oder ein taktischer Fehler?Edward N. Luttwak: Der ursprüngliche Plan war, dass der Vormarsch von Kuwait, von Süden, ein Unterstützungsangriff sein sollte. Die Hauptoffensive sollte von stärkeren Verbänden geführt werden, von der 4. Infanteriedivision und dem 3. mechanisierten Kavallerieregiment. Das ist eine sehr stark gepanzerte Armeebrigade; sie sollte von Norden her, von Kurdistan, direkt nach Bagdad vordringen. Die Komplikationen mit der Türkei führten dazu, dass die Unterstützungs- zur Hauptoffensive wurde.
War das kluge Taktik oder ein Fehler?
Ich glaube, es war ein Fehler. Man kann eine Umdisposition schon vornehmen, aber man hätte zuwarten sollen, bis die angreifenden Truppen hinreichend verstärkt gewesen wären. Stattdessen war man ungeduldig und begann den Angriff mit der 3. Infanteriedivision und der 1. Division der Marinesoldaten. Das sind Infanterietruppen, die nicht über das Material verfügen, um eine so grosse Strecke durch die Wüste zurückzulegen.
Hat diese Ungeduld damit zu tun, dass Politiker und nicht Militärs entscheiden?
Das kann man so nicht sagen. Die Entscheidung wurde gemeinsam mit dem Oberbefehlshaber Tommy Franks getroffen. Aber dessen militärischer Hintergrund sind nicht Panzerverbände, sondern Spezialtruppen. Franks orientiert sich primär an deren Möglichkeiten, also an schnellen, begrenzten Operationen.
Welche taktischen Vorteile und Risiken gibt es für Angreifer und Verteidiger?
Die Iraker haben keine grossen militärischen Kapazitäten; sie verfügen zwar über Divisionen und Brigaden, können diese aber nicht kompakt in einen Angriff führen. Sie können nur bruchstückhaft Angriffe auslösen, die ausserdem sehr schlecht durchgeführt werden. Das erklärt, warum die Verluste der amerikanischen und britischen Truppen so gering ausfallen. Aber zwei operationelle Entscheidungen haben das Risiko für die Alliierten vergrössert. Erstens die Ungeduld, die ich schon erwähnt habe, und zweitens ein Umstand, der für mich noch immer rätselhaft ist: Weshalb hat die Luftwaffe nicht in Bagdad die Elektrizitätsversorgung ausgeschaltet? Das hat es dem Regime erlaubt, weiter seine Massenmedien einzusetzen.
Liegt es vielleicht daran, dass die Nato beim Krieg gegen Serbien vor vier Jahren dafür kritisiert wurde, dass sie die Elektrizitätsversorgung lahmlegte?
In Belgrad legte man die Stromversorgung erst gegen Schluss der Luftangriffe lahm, und sie brach den Widerstand des Milosevic-Regimes. Die Lehre daraus hätte also gerade umgekehrt lauten sollen. 1991 hatte ich die Ehre, bei der Gruppe «Schachmatt» dabei zu sein, die die strategische Bombardierung von Bagdad plante. Unser Ziel war nicht einmal ein Regimewechsel, und trotzdem war für uns sonnenklar, dass es notwendig sein würde, das Regime «abzustellen» wie einen elektrischen Apparat. Jetzt hat man das nicht getan. Ich vermute, man war zu zuversichtlich, einen Zangenangriff von Norden und Süden her auf Bagdad ausführen zu können.
Welche Verteidigungsmöglichkeiten haben die Iraker?
Die Iraker spielen mit den Fähigkeiten, die sie noch immer haben, weil man ihnen ihre Propaganda nicht aus den Händen gerissen hat. Sie täuschen der Welt vor, dass sie nicht nur Opfer sind, sondern dass ihre Truppen eine militärische Wirkung erzielen. Vor allem in der arabischen Welt erlaubt ihnen dies, ihre sehr geringen militärischen Erfolge aufzublasen, und damit für die Kriegskoalition ein grösseres politisches Risiko in den Weg zu legen. Das andere Überraschungsmoment ist der Einsatz der irregulären Truppen. Für die militärische Taktik bringen diese zwar wenig, aber sie können die Nachschublinien einer Armee stören, die so weit ins Feindesland vorgedrungen ist.
Haben die Iraker das von 1991 gelernt?
Ja. Die irakischen Militärs haben offenbar den Schluss gezogen, entscheidende Kampfhandlungen zu meiden. Aber das ist keine Lösung ihres Problems. Es verlängert höchstens den Krieg. Die Iraker haben diese grosse Armee, aber sie können sie nicht gebrauchen. Wenn Sie eine gepanzerte Division haben und die Panzer hinter jeden Baum und jede Deckung stellen, dann können Sie die Panzer nicht mehr für einen Gegenangriff einsetzen. Es heisst nur, dass die Alliierten mehr Zeit benötigen werden, bis man diese Truppen zerschlagen hat. Eigentlich wären die Alliierten sehr verletzlich. Ihre 350 Kilometer lange Versorgungslinie, die nur eine Fahrspur breit ist, wäre ein klassisches Ziel für massierte Gegenangriffe. Wenn also die Lehre der Iraker aus dem Golfkrieg von 1991 war, ihre Kräfte zu verzetteln, heisst das auch, dass sie ihr Potenzial für einen Gegenangriff aufgegeben haben.
Man spricht viel über den technologischen Fortschritt. Ist dieser nicht mit Kosten verbunden bei der Organisation der notwendigen Datenmasse?
Vielleicht, aber das sind sicher nicht die Probleme, mit denen sich die Alliierten zurzeit herumschlagen müssen. Sie schlagen sich mit einem ganz altmodischen Problem herum - einer räumlich sehr lang gezogenen und schmalen Offensive mit nicht gesicherten Nachschublinien.
Welche Optionen haben beide Seiten, sollte es zum Häuserkampf kommen?
Die Alliierten werden hoffentlich nicht nach Bagdad eindringen, solange das Regime noch Herr der Lage ist. Wenn sie das täten, während das irakische Regime weiterhin die Kontrolle über die Bevölkerung ausübt, wäre das gefährlich. Beim Strassenkampf ist die Sicht blockiert. Der taktische Vorteil, Feuerkraft zu konzentrieren und auf Distanz zu gebrauchen, wird dadurch neutralisiert. Dazu kommt die vertikale Ebene. Infanterieverbände können die horizontale Ebene beherrschen, aber wenn man hohe Gebäude hat, und man kann sie nicht zerstören, weil man Opfer vermeiden will, dann kann die Säuberung eines einzigen Gebäudes die Kräfte eines ganzen Bataillons während Stunden binden.
Sie haben in Ihrem wichtigsten Buch («Über Strategie») die «paradoxe Logik» beschrieben, dass militärische Verbände lauern - also nichts tun -, um Vorteile zu erringen, oder dass man Krieg führt, um einen Frieden zu gewinnen. Kommt diese Logik jetzt zum Zug?
Wenn man die irakische Armee betrachtet, die zahlenmässig sehr gross ist, aber sich weigert, eine Schlacht zu führen, ja. Auf der strategischen Ebene würde ich sagen, dass die USA nach dem Ende der militärischen Bedrohung durch die Sowjetunion und dem Ende der wirtschaftlichen Bedrohung durch Japan ihre Möglichkeiten zu überschätzen begonnen haben. Würde Amerika klug handeln - nach der paradoxen Logik von Krieg und Frieden -, würde es seine Macht zügeln oder besser: tarnen. Aber Amerika hat das Gegenteil getan. Es hat seine Macht ausgebaut und für alle übergross an die Wand gemalt. Das hat zu Widerspruch herausgefordert, und die Auswirkungen sind abzulesen in den politischen Konflikten unter den Bündnispartnern.
Interview: Markus M. Haefliger
- Re: Objektive Sicht. Danke. oT Guerrero 30.3.2003 23:07 (1)
- Re: Objektive Sicht. Danke. oT Andreas 31.3.2003 00:50 (0)