Die Sintflut eine rein gesellschaftliche Katastrophe?

Geschrieben von JeFra am 11. März 2003 20:51:54:

Als Antwort auf: Sintflut und merkwürdige Langlebigkeit geschrieben von JeFra am 11. März 2003 20:18:32:

Die Meinungen in dieser Frage scheinen geteilt zu sein. Woolley will bei den Ausgrabungen in Ur Spuren einer Überflutung im dritten Jahrtausend vor Christi Geburt gefunden haben. Andere halten dies für Spuren von lokalen Überflutungen, die ja in Mesopotamien nicht selten waren. Diese Ansicht ist insofern plausibel, als bei einer Sintflut von biblischen Ausmaß eigentlich in Ur kein Stein auf dem anderen hätte bleiben dürfen. Aus DDR-Zeiten habe ich ein Buch von W. Beltz, Das Tor der Götter, der die Sintflut als ein regionales Ereignis betrachtet, welches nur den Untergang von Schuruppag bewirkt hat.


Am meisten gefällt mir die folgende Theorie von D. O. Edzard aus Band 2 der Fischer-Taschenbücher Weltgeschichte, woraus ich hier einen ganzen Absatz (von S. 56) zitieren möchte:


Für Katastrophen aller Art, auch für die Störungen, die die Zuwanderung fremder Völker im Gefolge hatte, verwendet die sumerische Dichtung vielfach das Bild der «Flut», wobei sie auf ein in Babylonien nur zu häufiges Naturereignis verweist. Wenn die Kompilatoren der sumerischen Königsliste die «Flut» in die Zeit verlegen, in die der Bruch zwischen der frühgeschichtlichen Epoche und der frühdynastischen Zeit fällt, meinen sie mit diesem Bild den Zustrom der akkadischen Schicht. Es ist zwar schwer zu ermessen, wie den Verfassern der Königsliste noch Kunde von den Ereignissen dieser frühen Zeit erhalten geblieben sein konnte, es liegt auch nahe, anzunehmen, daß für sie die eigene Erfahrung der Zuwanderung kana'anäischer Stämme nach Babylonien zu Beginn des 2. Jahrtausends, der zweiten großen Welle semitischsprechender Bevölkerungsanteile, bei der Deutung auch des frühen Geschehens mitbestimmend gewesen ist: Auf alle Fälle hätten sie für die Ereignisse, wie sie sich in den Augen der Sumerer abzeichnen mußten, die Überflutung ihres Landes durch Fremde, schwerlich ein besseres Bild finden können.

Ein paar Seiten vorher verweist Edzard übrigens auf den archäologischen Befund, wonach die Städte in Babylonien in frühgeschichtlicher Zeit keine Stadtmauern hatten. Gewaltsame innerbabylonische Auseinandersetzungen gab es eben anscheindend erst nach der Flut, in guter Übereinstimmung mit den entsprechenden Behauptungen der sumerischen Königsliste.


Die Klagen über den Untergang von Ur bzw. von Sumer und Ur liefern ein ziemlich gutes Beispiel dafür, daß im Bewußtsein der damaligen Schreiber möglicherweise schon nach einer Generation der Unterschied zwischen Naturkatastrophen einerseits und Kriegen sowie anderen Gesellschaftskatastrophen auf der anderen Seite verwischt werden konnte. Die Wissenschaft ist sich ziemlich einig, daß der Untergang von UrIII ökonomische Gründe hatte, wobei der Feldzug Elams gegen Ur nur den Stempel auf die Todesurkunde gesetzt hat. Dieser Sachverhalt klingt zwar auch in den genannten Klageliedern an, wird aber von Beschreibungen über gewaltige Naturkatastrophen überlagert (ud-de3 mar-uru5-gin7 tec2-bi i3-gu7-e = Gleich einer Flut wird allesverschlingend der Sturm wüten), die obendrein bis nach Elam selbst sich ausgewirkt haben sollen. Auf derartige Naturkatastrophen scheint es aber weder in den Wirtschaftstexten noch im archäologischen Befund irgendwelche Hinweise zu geben. In der Klage um Ur tauchen außerdem in einer langen Folge stereotyper Floskeln Sätze auf wie etwa «Heilige Stadt Nippur, die Klage ist bitter, die Klage um Dich. Mauerwerk des E-Kur, die Klage ist bitter, die Klage um Dich. ... Mauerwerk Isins, die Klage ist bitter, die Klage um Dich.» Die genannten Orte standen aber unter der Kontrolle Ischbierras, weswegen sich Elam vermutlich nicht an ihnen vergriffen hat. Edzard schreibt aaO S. 152: «Zwar heißt es in der Ur-Klage, daß auch mittelbabylonische Städte betroffen seien. Aber diese Aussage verträgt sich nicht mit den Nachrichten aus Isin, die auf einen ungestörten Fortbestand des neuen Staates schließen lassen. Hier findet sich kein Anzeichen für eine Beeinträchtigung des Landes im Norden von Ur.»


Es scheint also gute Indizien dafür zu geben, daß sich hinter Schilderungen von Naturkatastrophen in sumerischen Texten rein gesellschaftliche Umbrüche verbergen können, deren Dimension in der Wirklichkeit möglicherweise kleiner ist als in den Texten. Der sumerische Sintflutbericht könnte ganz Eurasien beeinflußt haben und z. B. auf dem Umweg über die Hethiter nach Griechenland gelangt sein. Vermutlich wurde der Inhalt dabei modifiziert und teilweise mit eigenen Erinnerungen an große, aber nicht weltweite Naturkatastrophen verschmolzen. Kleine Impaktoren von einigen dutzend bis wenigen 100m Durchmesser gibt es ja sehr viel häufiger als kilometergroße kosmische Geschosse. Warum müssen die Sintflutberichte der Völker sich alle auf ein Ereignis, im Unterschied zu mehreren gleichartigen Ereignissen, beziehen? Wenn man die Sintflut so deutet, ist man jedenfalls nicht gezwungen, an Polsprünge oder 40000-jährige Regierungsdauern von Königen zu glauben.


MfG
JeFra



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