@Zitrone - Und hier zur Beantwortung deiner Frage
Geschrieben von Hubert am 03. November 2005 11:10:14:
Als Antwort auf: Re: Methodik der Impulsraumberechnung - am Beispiel von Paris geschrieben von Hubert am 02. November 2005 21:30:59:
Wie siehst du dann Marienerscheinungen in diesem von dir dargestellten Kontext?
Sie stellen zweifelsohne "Neuoffenbarungen" dar, deren Inhalte allerdings, die Aussagen der heiligen Schrift, in bestimmten Teilen relativieren.
Da der von dir angesprochene Geist sich nicht selbst widersprechen kann, da er aus der Wahrheit für die Wahrheit Zeugnis ablegt, muss ja dann eine andere Quelle kausal für diese Art der "Offenbarung" verantwortlich gezeichnet werden.
Ich beziehe mich da auf die Stelle in der Offenbarung, wo es heisst, manchmal verstellt sich der Satan auch als Engel des Lichts.Hallo Zitrone,
zunächst mal vielen Dank für deine überaus interessante Anmerkung, von der ich weiß, daß sie sehr viele Protestanten beschäftigt. Ich hoffe, daß es mir gelingen wird, dir die Sichtweise der Kirche zumindest etwas näher zu bringen und dir zu vermitteln, daß vordergründig widersprüchliche Auffassungen von der Wahrheit ihre „Widersprüchlichkeit“ verlieren, wenn man weiß, wie jeweils auf der anderen Seite gedacht wird. Vor allem werde ich versuchen rüberzubringen, zu welchen Tiefendimensionen der Erkenntnis die Kirche Zugang hat, warum die Kirche als ganze unfehlbar ist und warum das protestantische „Bibelforschen“ zwar ein wichtiger, aber nicht der alles entscheidende Punkt ist.
Damit du den Erkenntnis-Graben, der zwischen katholischer und protestantischer Auffassung besteht, zumindest theoretisch vor Augen hast, komme ich mal auf den Erkenntnis-Graben zu sprechen, der zwischen Christen und Juden besteht – denn der ist für uns Christen natürlich viel leichter zu erfassen.
Die jüdische Theologie kann einen ganz bestimmten Punkt der Erkenntnis nicht überschreiten, weil ihr die entsprechende Offenbarung dazu fehlt, weil sie nämlich die entscheidende Dimension, die der Messias eingebracht hat, nicht anerkennt. Das heißt nicht, daß die jüdische Theologie falsch ist – es heißt nur, daß die Schüler, die mit der jüdischen Theologie aufwachsen, nur den Lehrstoff des ersten Schuljahres beherrschen und dadurch keine Chance haben, in die zweite Klasse versetzt zu werden.
Ich erläutere das mal am Begriff der „Heiligkeit“.
In Lev 19,12 heißt es: „Und der Ewige redete zu Mosche und sprach: ‚Rede zu der ganzen Gemeinde der Kinder Jisrael und sprich zu ihnen: Heilig sollt ihr sein, denn heilig bin ich, der Ewige, euer Gott.’“
Wir, die wir durch die Selbstoffenbarung Gottes erkannt haben, daß Er der Dreifaltige ist, haben dadurch natürlich ebenfalls erkannt, daß der Begriff der „Heiligkeit“ über den Begriff der „Heiligkeit“ in der jüdischen Tradition weit hinausgeht. Im Alten Testament ist „der Heilige“ immer „der Gerechte“. Christen wissen aber, daß die Dimension der Gerechtigkeit für eine Heiligsprechung nicht ausreicht. Und weil Christen und Juden schon bei diesem Begriff der „Heiligkeit“ ein unterschiedliches Verständnis haben, ist für den Juden die Heiligsprechung eines Menschen, wie sie der Papst im Namen der Weltkirche vornehmen kann, völlig unverständlich. Auch die christliche Forderung, jeden Menschen gleich zu lieben, bleibt einem Juden im Grunde fremd. Die caritas, die eigentliche Tiefendimension der Heiligkeit, wird deshalb von ihm pragmatisch ignoriert und auf „Zedek“, die Gerechtigkeit, reduziert. Persönliche Heiligkeit kann im Judentum also dadurch erreicht werden, daß sich der Einzelne bemüht, ein „Zaddikim“ – ein Gerechter – zu werden.
Du siehst: Ohne die Tiefendimension des Messias kann die jüdische Theologie einen bestimmten Punkt der Erkenntnis unmöglich übersteigen – was natürlich nicht heißt, daß die jüdische Theologie falsch ist. Die jüdische Theologie ist nicht falsch, aber sie ist eben nur eine Theologie der Fläche. Ihr fehlt die Christus-Dimension. Wir aber, die wir wissen, daß Jesus Christus der verheißene Messias ist, sind aufgrund dieser zusätzlichen Dimension, die wir in der Taufe erhalten haben, in der Lage, das Alte Testament viel tiefer zu erfassen als es einem Juden je möglich wäre. Die Schrift (Altes und Neues Testament) ist deshalb eine einzige, weil es nur ein Wort Gottes, nur einen Heilsplan Gottes und nur eine göttliche Inspiration beider Testamente gibt. Das Alte Testament bereitet das Neue vor, und das Neue vollendet das Alte: Beide erhellen einander.
Bereits an dieser Stelle kann man also ein sehr einfaches, aber griffiges Bild benutzen, um die unterschiedlichen Rangstufen der Theologie am besten zu visualisieren:
1. Jüdische Theologie – Zweidimensional, also eine Theologie der Fläche.
2. Protestantische Theologie – Dreidimensional, also eine Theologie des Raumes.
3. Katholische Theologie – Multidimensional, die Theologie des Hyperraums, der ganzen Wahrheit Gottes.Wenn es um Wahrheit geht, kann man schwerlich quantitative Aussagen machen. Man kann also nicht sagen, die Juden haben sechs Prozent der Wahrheit, und die Protestanten haben siebzehn Prozent der Wahrheit. Aber was man mit Sicherheit sagen kann, ist, daß die römisch-katholische Kirche im hundertprozentigen Besitz der Wahrheit ist.
Warum ist das so? Klingt das für heutige Ohren nicht unglaublich anmaßend? Es ist so wegen der sakramentalen Dimension der Kirche – sie ist ja selber universelles Heilssakrament – und vor allem wegen des Beistandes durch den Heiligen Geist.
Die drei hauptsächlichen Quellen des Glaubens und der Theologie sind:
- die Heilige Schrift
- die Tradition
- das Lehramt der KircheSind diese drei Wege oder Quellen auch voneinander zu unterscheiden, so darf man sie doch in keiner Weise voneinander trennen. Ihre Zusammengehörigkeit und enge Verbindung hat das Zweite Vaticanum deutlich hervorgehoben: „Es zeigt sich also, daß die Heilige Überlieferung, die Heilige Schrift und das Lehramt der Kirche gemäß dem weisen Ratschluß Gottes so miteinander verknüpft und einander zugesellt sind, daß keines ohne die anderen besteht und daß alle zusammen, jedes auf seine Art, durch das Tun des einen Heiligen Geistes wirksam dem Heil der Seelen dienen.“
Was nun das hierarchische Verhältnis dieser drei Hauptquellen der Theologie betrifft, so läßt sich feststellen, daß Schrift, Tradition und Kirche je nach dem Gesichtspunkt, unter dem man sie betrachtet, in unterschiedlicher Rangordnung erscheinen. Der Unmittelbarkeit nach steht natürlich die Kirche am ersten Platz. Sie ist die nächstliegende Quelle und Norm des Glaubens und der Theologie. Die Offenbarung in Schrift und Tradition ist ja schließlich der Kirche anvertraut. Und nur in ihr bleibt sie lebendig. Die Kirche hat den Auftrag, sie zu verkünden und mitzuteilen.
Unter dem Gesichtspunkt des Ranges und der Würde steht die Hl. Schrift an erster Stelle. In ihr hat sich Gott in besonderer Weise mitgeteilt und teilt er sich weiterhin mit. Die Hl. Schrift ist unter dem besonderen Beistand des Heiligen Geistes (Inspiration) geschrieben worden. Sie ist daher in vollem Sinne Wort Gottes und irrtumslos in ihren Aussagen, die unser Heil betreffen.
Die Kirche muß sich ständig am Wort Gottes in der Hl. Schrift orientieren, messen und normieren. Nur als unter dem Wort Gottes stehende und von ihm normierte ist die Kirche unmittelbare, nächste Norm des Glaubens. Dagegen unterliegt die Hl. Schrift keiner Norm, sondern sie ist die höchste Norm. An ihr ist auch die kirchliche Überlieferung zu messen, ob sie die Offenbarung Gottes richtig weitergibt.
Der Kirche als ganzer ist also die Offenbarung anvertraut. In der Kirche als ganzer ist Gottes Offenbarung, enthalten in der Hl. Schrift und in der Tradition, gegenwärtig. Sie kann in ihr nicht untergehen. Ginge die Offenbarung in der Kirche als ganzer auch nur vorübergehen unter, dann wäre die Selbstmitteilung Gottes in Christus nicht mehr endgültig, d. h. nicht mehr bis zum Ende in dauernder Geltung.
Die Kirche als ganze ist nicht dasselbe wie die ganze Kirche. Teile der Kirche, selbst Vertreter der Hierarchie, um so mehr Theologen, können sich von der geoffenbarten Wahrheit abwenden und dem Irrtum verfallen (Luther, Calvin, Zwingli ff.). Aber nie wird wenigstens in einem sehr beachtlichen Teil der Kirche, der in diesem Fall für sie als ganze repräsentativ ist, das überlieferte und lebendige Wort der Offenbarung fehlen. Dabei ist die Stellungnahme des Papstes als des obersten Lehrers der Kirche von großer Bedeutung, wenn nicht sogar ausschlaggebend.
Auch der Glaubenssinn bzw. der Glaubenskonsens der Gläubigen sind in diesem Zusammenhang wichtige Aspekte. Unter Glaubenssinn (sensus fidei oder fidelium) versteht man den geistigen Instinkt des Gläubigen für die Wahrheit des Glaubens und des christlichen Lebens. Der Heilige Geist wirkt dieses geistliche Feingespür in denen, die ehrlich an Christus glauben. „Durch jenen Glaubenssinn nämlich, der vom Geist der Wahrheit geweckt und genährt wird, hält das Gottesvolk unter der Leitung des heiligen Lehramtes… den einmal den Heiligen übergebenen Glauben unverlierbar fest. Durch ihn dringt es mit rechtem Urteil immer tiefer in den Glauben ein und wendet ihn im Leben voller an“ (Lumen Gentium). Das Konzil spricht hier nicht allein vom Glaubenssinn, sondern bereits vom Glaubenskonsens. Dieser ist die gemeinschaftliche und besonders intensive Form des Glaubenssinnes. Im Glaubenskonsens strömt der Glaubenssinn der Mehrheit der Gläubigen zusammen und zeichnet sich dabei durch eine besondere Festigkeit der Überzeugung aus. Der Glaubenskonsens ist unfehlbar. Das Zweite Vaticanum kennzeichnet den Glaubenskonsens folgendermaßen: „Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen Geist haben (vgl. 1 Joh 2,20 u. 27), kann im Glauben nicht irren. Und diese ihre besondere Eigenschaft macht sie durch den übernatürlichen Glaubenssinn des ganzen Volkes dann kund, wenn sie – von den Bischöfen bis zu den letzten gläubigen Laien – ihre allgemeine Übereinstimmung in Sachen des Glaubens und der Sitten äußert“ (Lumen Genium).
Ein intelligenter Mensch wie du, Zitrone, fragt sich natürlich: Und wie will man den Glaubenskonsens feststellen?
Natürlich genügt es nicht, die Stimmen zu zählen, soweit dies überhaupt möglich wäre. Die Stimmen sind vielmehr zu wägen. Da es sich nämlich um den Glaubenskonsens handelt, darf nicht übersehen werden, daß der Grad des Glaubens bei den einzelnen, seien sie Kleriker oder Laien, nicht derselbe ist. Man kann ein Glied der Kirche, das ein tiefes Glaubensleben führt, nicht auf dieselbe Stufe mit einem bloßen Taufscheinkatholiken stellen. Entsprechend unterscheidet sich der Wert der Aussage in Sachen des Glaubens und des christlichen Lebens. Die Reihenfolge bei der Feststellung des Glaubenskonsenses wäre demzufolge: Papst – Kardinäle – Bischöfe – übrige Kleriker – Laien. Die Stimmen der protestantischen Christen dürfen aufgrund ihrer unvollständigen Initiation gar nicht berücksichtigt werden. Ihre Gewichtung beträgt also Null.
Ich spreche hier also die ganz wichtige, sakramentale Dimension der Kirche an. Dadurch daß der Katholik über das Taufsakrament hinaus auch die heiligen Sakramente der Firmung und der Eucharistie empfängt (= vollumfängliche Initiation), kann er durch die Gnade Gottes geistig natürlich viel tiefer blicken. Das heißt natürlich nicht, daß er im konkreten Fall nicht auch viel tiefer fallen kann als der Protestant. Ich will damit nur sagen, daß seine Startposition eine bessere ist. Der Katholik muß, wenn er sich auf diesem hohen Initiations-Niveau halten will, ständig sein Gewissen erforschen, ständig am sakramentalen Leben der Kirche teilnehmen. Und das heißt vor allem: regelmäßiger Empfang des Bußsakraments und der Eucharistie.
Das wichtigste ist allerdings:
Das persönliche Gebet.
Diese Vorbemerkungen habe ich nur gemacht, damit du unser katholisches Denken besser nachvollziehen kannst.
Nun zur Beantwortung deiner eigentlichen Frage.
Niemals würde die Kirche eine NEU-Offenbarung anerkennen. Jesus Christus ist die letzte Stufe der Offenbarung. Er ist das vollkommene und endgültige Wort des Vaters. Alles was nach Christus kommt, ist entweder von der Schlange oder pures Menschenwerk.
Streng zu unterscheiden von dem Begriff der NEU-Offenbarung, welche von der Kirche also strictissime verworfen wird, ist der Begriff der PRIVAT-Offenbarung. Privatoffenbarungen gehören nicht zum Glaubensgut. Sie können aber helfen, aus dem Glauben zu leben, wenn sie streng auf Christus ausgerichtet bleiben. „Das Lehramt der Kirche, dem die Unterscheidung solcher Privatoffenbarungen zusteht, kann deshalb jene nicht annehmen, die vorgeben, die endgültige Offenbarung, die Christus ist, zu übertreffen oder zu berichtigen“, wie es im Katechismus heißt.
Die Kirche hat natürlich einen ganz klaren Begriff von der Macht der Hölle – schließlich war Luzifer einst der vollkommenste Engel. Luzifers Macht im Täuschen und Erzeugen von Phänomenen jedweder Art ist über die Maßen groß. Deswegen unterzieht die Kirche alle diese sogenannten „Erscheinungen“ einer oft viele Jahrzehnte währenden Prüfung. Der Anforderungskatalog an die Echtheit einer solchen Erscheinung ist schon gigantisch, und man kann sagen, es fällt praktisch alles durch. Die Kirche ist keinesfalls an einer Inflation von Wundern interessiert. Sie ist und bleibt die skeptischste und nüchternste Institution auf Erden. Ganz wenige Phänomene – wie z. B. die Erscheinungen der allerseligsten Jungfrau und Gottesmutter Maria in Lourdes oder Fatima – haben die wirklich „mörderischen“ kirchlichen Prüfprozeduren überstanden und können deshalb mit Fug und Recht als echt bezeichnet werden. Aber kein Katholik ist verpflichtet, an sie zu glauben. Sie sind echt, aber sie gehören – wie gesagt – nicht zum Glaubensgut.
Ich hoffe, ich habe deine Frage ausreichend beantwortet.
Ein abschließendes Wort zu meiner langjährigen Erfahrung im Umgang mit Protestanten: Meines Erachtens bringt es nichts, mit einem Protestanten über Papst und Kirche zu reden – er kann einen gar nicht verstehen, da er die Religion ja niemals kennengelernt hat. Meine persönliche Strategie beschränkt sich deshalb immer darauf, mit dem Einzelnen über Gott zu reden und ihn zum Beten zu bewegen. Denn nur in einem Menschen, der regelmäßig betet, kann Gott etwas bewirken – und ihm zum Beispiel die Augen dafür öffnen, was es mit dem Protestantismus auf sich hat. Das größte Hindernis besteht nämlich tatsächlich darin, daß das Gros der Protestanten nicht betet. Im Anfang ist für das persönliche Gebet mit dem Herrn eine Zeitspanne von fünfzehn Minuten täglich völlig ausreichend. Später werden daraus automatisch dreißig Minuten und mehr, da man auf diesen intimen Dialog mit Gott gar nicht mehr verzichten kann.
Herzlichen Gruß,
Hubert
- Re: @Zitrone - Und hier zur Beantwortung deiner Frage ISquare 03.11.2005 12:00 (0)
- Re: @Zitrone - Und hier zur Beantwortung deiner Frage Zitrone 03.11.2005 17:46 (2)
- Re: @Zitrone - Und hier zur Beantwortung deiner Frage Abulafia 04.11.2005 01:52 (1)
- Re: @Zitrone - Und hier zur Beantwortung deiner Frage Zitrone 04.11.2005 10:06 (0)