Sibylle (Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens)

Aus Schauungen, Visionen & Prophezeiungen

Von Will-Erich Peuckert.

Überblick

Gestalt und Name der Sibylle ist dem Volke auf vier verschiedenen Wegen zugekommen. Für die Scheidung der Gestalten, die Sibyllen-Volksbücher und ihre quellenkritische Aufarbeitung wie für die Frage des Nachlebens der Gestalt im deutschen Volksglauben verweise ich auf meine Untersuchung „Sibylle Weiß“.
Zum ersten Male ist dem Volk im Mittelalter die Sibylle entgegen getreten; das „teste David cum Sibylla“, des Dies-irae-Gesanges vermag ein Bild von ihrem unbestimmten und nicht recht greifbaren Wesen zu geben – dem Wesen der von Gott begnadeten, wie dieser Gesang bezeugt – und dennoch heidnischen Frau, wovon man durch Vergil genug erfuhr. Aber bereits dem Mittelalter verwandelt sich die Sibylle zu den Sibyllen. Wir sehen in diesen Werdeprozeß noch nicht genügend tief hinein, um ihn in allen Stadien beschreiben zu können. Ein sicherstes Zeugnis für die Vervielfältigung der Gestalt gewähren uns die üblich werdenden Beinamen: Sibylla Cumana, Sibylla Erithrea, Sibylla Tiburtina usw. Das 15. Jahrhundert weiß dann von 12 Sibyllen, die den Propheten gegenüber gestellt werden, ja die wohl diesen erst verdanken, daß man die runde Zahl für sie erfand. Zu den Propheten des AT. treten in gleicher Zahl die prophetischen Stimmen des Heidentums, die (wie die zwölf Propheten) Christum verheißen haben. Der Nachklang der vierten Ecloge Vergils und der der Erithrea zugeschriebenen Sage ist deutlich zu erkennen.
Bereits die Kunst des 15. Jahrhunderts bemächtigte sich der zwölf. Vielleicht als eine Anweisung für bildende Künstler, in jedem Falle aber abschließend die Entwicklung und typusformend, wird in dem Opusculum de vaticiniis Sibillarum des Filippo Barbieri von diesen zwölf gehandelt, ihr Name, Aussehen und ihre Vaticinia festgelegt. Das Opusculum[1] ging in das deutsche Volksbuch „Zwölff Sibyllen Weissagungen“ von 1516 über vgl. [1] und wirkte auf diese Art ins Volk.
Schon im 14. Jahrhundert schälte sich aus der Vielzahl der Sibyllen als wichtigste die Tiburtina (s.u.) heraus. Auf ihrer Grundlage entstand in der Zeit Karl IV. ein deutsches Sibyllenngedicht[2], das sich großer Beliebtheit erfreute, Köbel die erste Anregung zum oben erwähnten Volksbuch gab vgl. [1], in dieses selbst einging, wodurch die Gestalt der „13. Sibylle“ geschaffen wurde, daneben aber selbständig fortlebte, gegen Ende des 16. Jahrhunderts nicht nur in einer Umdichtung[3], sondern als im Volk wirkend und glauben-formend bezeugt ist vgl. [1], und sich dann über die deutschen Grenzen ausbreitete, den Norden erfaßte, wo es noch heut in Drucken umgeht und in zahlreichen Sagensammlungen von ihm berichtet wird vgl. [1].
Wie ich bereits bemerkte, schuf der Oppenheimer Drucker Johann Köbel das deutsche Volksbuch „Zwölf Sibyllen Weissagungen“, in dem er den durch eine Predigt Jost Eychmans von Heidelberg erweiterten Text Barbieris mit einer Prosaumschreibung des deutschen Gedichtes vereinte vgl. [1]. Manch kleineres Einsprengsel mag hier unerwähnt bleiben. Köbels Druck vermochte nicht, sich durchzusetzen; erst in den Händen der geschäftstüchtigen Firma Egenolph in Frankfurt a. M., die dem Köbelschen Text einen Anhang beifügte[4], wurde aus dem Schriftchen der Volksbuchtext, der sich bis in das vorige Jahrhundert erhielt[5].
Im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gelangte das Volksbuch in die Hände eines Nationaltschechen, anscheinend aus der Umgegend Pilsens vgl. [1]. Dieser, ein dichterisch hochbegabter Mann, schmolz es mit der Schilderung eines deutschen Prälaten zum Kampf von der Schlacht am Weißen Berge, wohl auch mit Reminiszenzen, die am Untersbergbüchel hängen, und anderem Gut zusammen zu der „Proroctví Michaldy, králowny ze Sáby, trinácté Sibylly“: Prophezeiung der Königin Michalda von Saba, der dreizehnten Sibylle. Einige tschechische Drucke aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren in Prag aufzustöbern vgl. [1]. Die Deutschen in Österreich lasen, gebannt von den großen Gesichten des tschechischen Dichters, über die ihnen feindseligen Stellen hinweg, und es entstanden in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zwei Übersetzungen der „Proroctví“, von denen die eine in Linz, die andere in Leitomischl erschien. Die Verbreitung der Leitomischler „Prophezeiung“ scheint sich auf das deutsche Nordböhmen und -mähren beschränkt zu haben; die Linzer hat anscheinend den ganzen „deutsch-österreichischen“ Teil der alten Monarchie erfaßt vgl. [1].
Über weitere Sibyllen-Volksbücher vgl. meine „Sibylle Weiß“.

Verbreitungsgeschichte

Es ist mir möglich gewesen, die Verbreitungsgebiete der drei wichtigsten Sibyllen-Bücher (das Gedicht, Köbels „Zwölff Sibyllen Weissagungen.“, tschechische „Prophezeiung Michaldas“) abzugrenzen vgl. [1]. Das gibt eine erste Antwort auf die Frage, aus welcher der Schriften eine Volksvorstellung entsprang. Das Gedicht lebte um 1600 am Kyffhäuser vgl. [1] und besitzt jetzt Dänemark, Schweden, schwedisches Finnland, Norwegen. Das Köbelsche Volksbuch ist einmal in Schwaben, Tirol, Salzburg, Bayern, Ober-Österreich, Westböhmen nachzuweisen, hat ein zweites Zentrum am Rhein (Köln), und scheint nach Thüringen verschleppt worden zu sein. Der „Proroctví“ gehörte das innere Böhmen und Polen bis nach Kulm, Thorn; ihre deutsche Übersetzung strahlt nach allen Seiten aus und erreicht im Norden Breslau und Schweidnitz, im Westen die Oberpfalz und Salzburg, im Süden Friesach und das Metnitztal in Nordkärnten, Salzburg vgl. [1].
Ich kann, nachdem ich das Werden und Wachsen der einzelnen Motive im Volk in meiner „Sibylle Weiß“ verfolgt habe, hier nicht ausführlich mehr darauf eingehen, sondern nur kurz anmerken, daß aus dem Anhang des Köbelschen Druckes die „Türkenschlacht bei Köln“ auswuchs vgl. [1], und wir für deren Propheten (Spielbähn usw.) Kenntnis der Schrift nachweisen können vgl. [1], daß aus der deutschen „Prophezeiung“ vor allem die Prophetie gekommen ist, ein Fuhrmann werde einst mit der Peitsche auf eine wüste Stelle zeigen und seinen Fahrgästen erklären: Hier stand einst die stolze Stadt Prag (Breslau, Graz usw.) vgl. [1].

Die Sibylle in Mittel- und Oberdeutschland

Während in NW-Deutschland Sibylle ein Name für die witten wiver wurde, nennt seit dem Ende des 17. Jahrhunderts das mittel- und oberdeutsche Volk die an einem Baum wohnende Bilweise: Billeweis (Kärnten), Willeweis (Tirol), Sibylle Weiß (Oberpfalz, Steiermark), Sewilla Weiß (Egerland), Sibylle (Lausitz, Grafsch. Glatz, Schwaben)[6]. Es tritt eine Vermischung beider Gestalten ein, aus der sich als volksläufiger Typus die zukunftwissende Frau an oder unter einem Baume herauskristallisiert, die die Endschlacht weissagt, wenn dies und das Vorzeichen geschehen ist.

Die Sibylle im deutsch-slavischen Grenzbereich

Ein unvergleichlich bunteres Fortleben ist aus der Volkserzählung und dem Volksglauben der deutsch-slavischen Berührungszone festzustellen. Sibylle tritt hier in die Märchen vom Schlangenturm zu Babel, vom Fürsten Lichtenstein ein vgl. [1], wird zu einer der drei Schlangenjungfrauen des Märchens vgl. [1], tritt neben oder für die Melusine der böhmischen und polnisch-schlesischen Sage ein vgl. [1].

Sibyllinische Rituale

Seit dem 14. Jahrhundert hat man bei Norcia einen Monte della Sibilla und eine Höhle der Sibylle gekannt vgl. [1]. An einem See hat man dort in dieser und der folgenden Zeit nekromantische Zaubereien vorgenommen, magische Bücher geweiht usw. vgl. [1].
In Deutschland hat man bei mantischen Praktiken die Sibylle beschworen, wovon Carpzow berichtet, und wovon ein Ritual im „Nigromantischen Kunstbuch“ vorliegt. Über die Sibylle, in Sagen und über Sibyllen-Weissagungen vgl. meine „Sibylle Weiß“. S. auch Tiburtina.

  1. 1,00 1,01 1,02 1,03 1,04 1,05 1,06 1,07 1,08 1,09 1,10 1,11 1,12 1,13 1,14 1,15 1,16 1,17 1,18 1,19 Peuckert Sybille Weiß.
  2. Lothar Darnedde Deutsche Sibyllen-Weissagung. Phil. Diss Greifswald 1933, mit manchem Irrweg in Einleitung und Schlüssen.
  3. Peuckert Legende vom Kreuzholz Christi, MschlVk. 28 (1927), 164 ff.
  4. Nachweis über die Herkunft der einzelnen Teile: Peuckert Zwölff Sibyllen Weissagungen, in MschlesVk. 29, 217.
  5. vgl. auch Schlachtenbaum (s. Nachtrag).
  6. Bibliographie der mir bekannt gewordenen Drucke in meiner Sybylle Weiß.