...Geschichte kann sich wiederholen!
Geschrieben von Ingenui am 27. März 2005 13:14:
Als Antwort auf: Wer aus der Geschichte nicht lernt... geschrieben von Badland Warrior am 27. März 2005 12:32:50:
Schauen wir einmal auf folgendes Szenario: Es gibt in Deutschland knapp zwei Millionen Arbeitslose, die öffentlichen Kassen sind leer, Staatsschulden türmen sich auf, das Wachstum stagniert, Steuern fließen spärlicher als erhofft. Die Regierung steht unter dem Druck der Industrie, deren Spitzenverband in einem Grundsatzpapier feststellt: "Für den jetzigen höchst bedenklichen Zustand sind ... die verfehlten Maßnahmen der Wirtschafts- und Finanzpolitik verantwortlich ... Die Wiederherstellung der Rentabilität in den Betrieben und die Eigenkapitalbildung in den Unternehmungen sind entscheidend für die Wiederbelebung ... der deutschen Wirtschaft."
Zur Erreichung dieses Ziels fordert die Industrie vom Staat vor allem die Senkung der Sozialabgaben. Zwar sollen die Grundlagen der Sozialversicherung erhalten bleiben, aber alle Leistungen sollen sich künftig den "Grenzen wirtschaftlicher Tragfähigkeit" anpassen und "nur den wirklich Bedürftigen zukommen". Daneben fordert die Industrie staatliche Maßnahmen zur Senkung der Tariflöhne, die Lockerung der Tarifbindung, die Privatisierung von Staatsbetrieben und den vollständigen Rückzug des Staates aus der Wirtschaft, eine Reform der Krankenversicherung, die generelle Senkung der Steuern und eine Politik der ausgeglichenen öffentlichen Haushalte. Nur eine allgemeine, umfassende Kostensenkung werde die Konjunktur wieder in Schwung bringen.
Wie es weitergeht, ist bekannt. Vier Monate nach Erhalt dieser Denkschrift wird Ende März 1930 Heinrich Brüning von der katholischen Zentrumspartei Reichskanzler und beginnt, mit Hilfe von Notverordnungen den Forderungskatalog des Reichsverbands der Deutschen Industrie (RDI) Punkt für Punkt abzuarbeiten. Als erstes wird der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung auf 4,5 Prozent angehoben und eine Zwangsgebühr für Krankenscheine sowie eine Beteiligung an den Arzneimittelkosten eingeführt. Dann wird die "Krisenfürsorgeunterstützung" (Arbeitslosenhilfe) gesenkt und ihre Bezugsdauer verkürzt. Und nachdem der RDI abermals niedrigere Lohnkosten angemahnt hat - als "wichtigste Voraussetzung ... der Wiedereinführung der Arbeitslosen in die Produktion" -, senkt die Reichsregierung per staatlich erzwungenem Schiedsspruch die Löhne in der Berliner Metallindustrie um insgesamt acht Prozent. Im Dezember 1930 werden die Gehälter und Pensionen der Beamten um sechs Prozent gekürzt, Grund- und Gewerbesteuern werden gesenkt, die Bier- und Tabaksteuer erhöht. Die Zahl der Arbeitslosen steigt auf vier Millionen.
Die Regierung Brüning beantwortet den Anstieg, toleriert von der SPD-Fraktion im Reichstag, mit erhöhtem Druck auf Arbeitslose wie Erwerbstätige. Mit der Notverordnung "zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen" werden bei der Arbeitslosenunterstützung zehn Prozent gestrichen, die Löhne, Gehälter und Renten der Arbeiter und Angestellten im öffentlichen Dienst um bis zu acht Prozent gekürzt. Der Zusammenbruch des Nordwolle-Konzerns, der zu Problemen bei zwei Großbanken und in der Folge zu einer allgemeinen Geldkrise führt, veranlaßt den RDI, eine sofortige Senkung der Steuerlast um zwei Milliarden Reichsmark anzumahnen.
Diesem Verlangen kommt Brüning nicht nach, weil er eine andere Forderung des RDI, die nach Ausgleich des Staatshaushalts, erfüllen will, weil nur eine "solide" Haushaltspolitik die Kreditwürdigkeit deutscher Unternehmen auf den internationalen Finanzmärkten heben könne. Aber an Kapital aus dem Ausland ist derzeit kaum zu gelangen, weil das Platzen der Spekulationsblase beim Börsencrash im vergangenen Oktober allein in den USA 50 Milliarden Dollar vernichtet hat. Und weil die sich seither weltweit ausbreitende Rezession alle Industriestaaten veranlaßt, ihre Staatsausgaben einzuschränken und sich "gesundzuschrumpfen". Brüning warnt im Kabinett lediglich vor Übertreibung, setzt aber wie der RDI auf die durch Schrumpfen zu weckenden Selbstheilungskräfte des Marktes.
Im April 1931 mahnt der RDI, dessen Geschäftsführer Ludwig Kastl das Kabinett Brüning bei allen Notverordnungen berät, in einem Memorandum weitere Lohnkürzungen an. Die Verschärfung der Lage zeige, "daß die Senkung der Gestehungskosten bisher noch nicht in dem Ausmaß und dem Tempo durchgeführt worden ist, wie es die Wirtschaftslage erfordert hätte". Deshalb könnten "nur ganz einschneidende und schnell durchgeführte Maßnahmen die weitere Abwärtsbewegung aufhalten und die Grundlage für eine Erholung schaffen".
Die Maßnahmen kommen, die Erholung nicht. Noch unter Brüning, der Ende Mai 1932 seinem Parteikollegen Franz von Papen weichen muß, sinken die Löhne und Gehälter im Vergleich zu 1928 um rund 15 Prozent, zusätzlich geschmälert um erhöhte Sozialversicherungsbeiträge und eine "Krisensteuer". Ende 1932 fehlen mehr als 25 Prozent in der Lohntüte. Noch härter trifft es die Arbeitslosen, deren offizielle Zahl Ende 1932 bei sechs Millionen liegt, von denen aber nur rund zwei Millionen Arbeitslosen- oder Krisenunterstützung beziehen, der große Rest muß von der Wohlfahrt leben oder hat gar nichts. Die Bezugsdauer der Unterstützung ist längst von 26 auf sechs Wochen verkürzt, der Zugang durch Bedürftigkeitsprüfungen erschwert. Der Unterstützungsaufwand für einen Arbeitslosen ist von knapp 80 Mark im Monat (1929) auf 43,50 Mark (1932) gekappt. Gegen Ende der Weimarer Republik ist jeder dritte arbeitslos, jeder fünfte muß kurzarbeiten.
Aber die, denen die Zerschlagung des Sozial- und Tarifsystems ein Herzensanliegen war, haben keine Freude an der Verwirklichung ihrer Empfehlungen. Mangels kaufkräftiger Nachfrage schrumpft die Industrieproduktion in Deutschland zwischen 1929 und 1932 um 42 Prozent, die Auslastung der Produktionskapazitäten sinkt auf 35 Prozent, die Gewinne brechen weg. Im Präsidium des RDI wird nun der dramatische Verfall der Großhandelspreise beklagt, die um ein Drittel abstürzen. Ernst von Borsig, Arbeitgeber-Präsident, der gerade noch die Beseitigung der Arbeitslosenversicherung und deren Ersetzung durch die "primitivste Form einer allgemeinen Erwerbslosenfürsorge" gefordert hatte, muß jetzt für seine Dampfmaschinenfabrik bei der Regierung um einen Kredit von drei Millionen Reichsmark betteln gehen. Und am wenigsten gut beraten ist wohl Paul Silverberg, RDI-Vizepräsident und Braunkohlenindustrieller, der 1932 seinen Verein zu einem Bündnis mit der NSDAP drängt und gleich nach der Machtübergabe an die Nazis von diesen als Jude aus dem Amt geworfen wird.Aus Konkret 5/04
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