Bewegungsenergie und Lastentragen

Geschrieben von mica am 09. März 2003 10:46:15:

.. wie tragen afrikanische Frauen schwere Lasten mit minimalem Energieeinsatz?

Im Folgenden wird der Bewegungsablauf beim Gehen mit schweren Lasten beschrieben - vielleicht ganz nützlich, wenn man selbstdurch die Wälder n wandern muss?

B E W E G U N G S K R A F T
Kopflastige Forschung

Warum verbrauchen afrikanische Frauen beim Tragen so wenig Energie? Zwei Physiologen wollen das Rätsel gelöst haben.
Menschen sind Energieverschwender, nicht nur beim Heizen oder Autofahren, sondern auch, wenn sie zu Fuß unterwegs sind. Ein großer Teil der Kraft, die wir für unsere Schritte brauchen, verpufft ungenutzt. Selbst die geschicktesten menschlichen Geher setzen die aufgewendete Energie maximal zu 65 Prozent in Vorwärtsbewegung um. Sogar Vögel oder Fische, die sich nebenbei noch in der Luft halten oder eine dichte Flüssigkeit verdrängen müssen, bewegen sich effektiver fort.

Die ärmliche Ergonomie des Homo sapiens kennt nur eine frappierende Ausnahme: afrikanische Frauen. Sie können weit höhere Wirkungsgrade beim Gehen erzielen, paradoxerweise jedoch nur dann, wenn sie dabei eine große Last auf dem Kopf tragen. Balancieren sie rund 20 Prozent ihres Körpergewichts auf dem Scheitel, so haben Forscher ermittelt, setzen diese Frauen ihre Energie zu über 80 Prozent in Vorwärtsbewegung um. Worin allerdings ihr Geheimnis besteht, wusste bisher niemand schlüssig zu erklären. Doch nun warten zwei Physiologen mit einer Theorie auf, die den beeindruckenden Gang der Afrikanerinnen endlich überzeugend erklärt.

Selbstversuch im Sturzflug
Mitte der achtziger Jahre sorgte die anmutige Bewegung afrikanischer Frauen erstmals für Aufsehen in der Wissenschaft. Norman Heglund, damals Doktorand der Harvard University, war 1977 in den Westen Kenias gereist, um die Energieausnutzung von Elefanten, Giraffen und Büffeln zu studieren. Doch als er dort sah, mit welcher Leichtigkeit die Frauen gewaltige Lasten auf ihrem Kopf trugen, war sein Forschungsinteresse geweckt. "Ich überredete die Frau meines Gastgebers zu einem Experiment", erinnert sich Heglund. Während sie unter verschiedenen Lasten vorwärts ging, maß er ihren Sauerstoffverbrauch unter einer Maske. Ihr Sauerstoff-(und damit ihr Energie-)Verbrauch stieg erst an, als sie mehr als ein Fünftel ihres Körpergewichts auf dem Kopf trug, doch weit weniger, als angesichts der zusätzlichen Last zu erwarten war. "Und sie war kein Einzelfall", sagt Heglund. Mit immer verfeinerteren Messverfahren konnte er zeigen, daß auch Frauen aus anderen Gegenden Afrikas die Kunst des energiesparenden Gangs beherrschen.

Dann stieß Heglund auf eine ältere Untersuchung an amerikanischen Soldaten, die beim Gehen unter der Last schwerer Rucksäcke erheblich mehr Energie verbrauchten als die Afrikanerinnen. Als er Vergleichsgruppen amerikanischer Männer und Frauen einen entsprechend schweren Bleihelm aufsetzte, konnten sie mit dem leichten Gang der Afrikanerinnen ebenfalls nicht mithalten. Als Heglund, inzwischen Physiologe an der katholischen Universität im belgischen Louvain, seine Forschungsergebnisse Mitte der achtziger Jahre publizierte, waren die Zahlen eindeutig. Doch was die Afrikanerinnen anders machen als der Rest der Menschheit, konnte er nicht erklären. Haben sie besonders starke Muskeln im Nacken oder Rücken? Bewegen sie sich beim Gehen weniger auf und ab, oder haben sie gar eine genetische Besonderheit? All diese Hypothesen ließen sich bei genauerer Untersuchung nicht halten. "Ich war einfach ratlos", sagt er.

Dann traf er Giovanni Cavagna, der sich als Physiologe an der Universität Mailand schon seit 1964 mit dem menschlichen Gang beschäftigt, allerdings nicht in Afrika, sondern auf dem Mond. Dort wirkt nur rund ein Sechstel der irdischen Schwerkraft. "Ich war nicht überrascht, daß die Astronauten dort nicht normal gehen konnten", erinnert sich Cavagna an das Jahr 1969, als Neil Armstrongs großer Schritt für die Menschheit eher wie ein Hüpfer aussah. Mithilfe einer Computersimulation entwickelte Cavagna ein Modell für das Gehen bei unterschiedlichen Werten der Schwerkraft, das unter anderem eine genaue Voraussage für künftige Marsbesuche ermöglicht: "Während die optimale Gehgeschwindigkeit auf der Erde 5,5 Kilometer pro Stunde beträgt, liegt sie auf dem Mars nur bei 3,4 und auf dem Mond sogar nur bei 2,2 Kilometer pro Stunde." Seine Theorie überprüft der 68 jährige Italiener regelmäßig im Selbstversuch in einem Forschungsflugzeug der Esa. Der umgebaute Airbus A300, in Fachkreisen als "Vomit Comet" (Kotzkomet) bekannt, fliegt von Bordeaux aus in wildem Steig- und Sturzflug über die Biskaya, sodaß in seinem Inneren für bis zu 30 Sekunden die unterschiedlichsten Gravitationskräfte herrschen, von der völligen Schwerelosigkeit bis zum vielfachen der irdischen Erdanziehung.

In dieser Woche sind Cavagna und Norman Heglund wieder mit dem Vomit Comet unterwegs. Gegenseitig beobachten sie, wie sich ihr Gang mit und ohne Gewichten auf Rücken oder Kopf unter den verschiedenen Schwerkräften verändert. Solche Studien haben die beiden Forscher auch auf ihre Theorie zum Gang der Afrikanerinnen geführt. Um diese zu verstehen, ist ein kleiner Ausflug in die Physik nötig. Denn die Bewegungskräfte beim menschlichen Gang vergleichen Cavagna und Heglund mit Kräften, die an einem Quadrat entstehen, das über den Boden holpert. Das Ende eines Schrittes, wenn das vordere Knie durchgedrückt ist, entspricht einem Quadrat, das auf einer Spitze steht. Dann ist der höchste Punkt der Bewegung und damit das Maximum der Lage-(oder potenziellen) Energie erreicht.

Wird der nächste Schritt eingeleitet und das Knie gebeugt, entspricht dies einem Quadrat, das sich weiterdreht. Dabei sinkt der Schwerpunkt, und die potenzielle Energie wird in Bewegungs-(oder kinetische) Energie umgewandelt. Am Tiefpunkt der Bewegung (wenn das Quadrat mit der Kante voll den Boden berührt) ist alle potenzielle in kinetische Energie umgewandelt. Sie reicht im Idealfall gerade aus, das Quadrat wieder bis auf die Spitze zu drehen. Dann kann der Kreislauf von vorn beginnen. Da dieses ständige Hin und Her zwischen Lage- und Bewegungsenergie an ein Pendel erinnert, beschreiben Cavagna und Heglund den menschlichen Gang auch als "umgekehrtes Pendel", dessen Aufhängepunkt gewissermaßen der Fußboden ist.

Doch tatsächlich ist unser Gang weit von der perfekten Pendelbewegung entfernt. Eine genaue Messung an Videoaufzeichnungen zeigt, daß der normale Homo sapiens am höchsten Punkt seines Gangs rund 15 Millisekunden braucht, um mit der Umsetzung der potenziellen Energie in kinetische Energie zu beginnen. Während dieser Zeitspanne sinkt er nach unten, ohne sich nach vorne zu bewegen, und verschwendet wertvolle Lageenergie ungenutzt. Afrikanische Frauen dagegen verzögern den Beginn der Vorwärtsbewegung nur um zehn, manchmal um noch weniger Millisekunden, jedoch nur dann, wenn sie eine Last auf dem Kopf tragen. Genauere Messergebnisse wollen Heglund und Cavagna noch in diesem Jahr veröffentlichen.

Lernprozess über Generationen
Und wieso können die Frauen mit einer schweren Last auf dem Kopf in diesen energiesparenden Gang fallen, amerikanische Rekruten aber nicht? Die Frage stößt nicht nur beim Militär auf Interesse. Doch da müssen die beiden Forscher alle Hoffnungen enttäuschen. "Der Unterschied ist so minimal, das können Sie nicht lernen", meint Giovanni Cavagna. Auch in Afrika beherrschen nur jene Frauen den Trick, die sich schon als kleine Mädchen an das Tragen von Lasten auf dem Kopf gewöhnt haben. "Wahrscheinlich gucken sie sich den perfekten Gang dabei von den älteren Frauen ab", vermutet Cavagna, "das ist ein Lernprozess über viele Generationen."

Die Frage, ob diese Art von Transport der Gesundheit nun nützt oder ob afrikanische Mädchen sich mit dem Tragen auf dem Kopf einen Rückenschaden holen, ist epidemiologisch nie untersucht worden. Deutsche Ärzte, die in Afrika gearbeitet haben, sind aber einig darin, daß Rückenprobleme bei afrikanischen Frauen auf dem Land sehr viel seltener auftreten als hierzulande. Schließlich wird die Rückenmuskulatur, die in den Industrieländern meist durch langes Sitzen verkümmert, bei ihnen durch das Tragen und Ausbalancieren der Last auf dem Kopf ständig trainiert.

Allerdings ist das Tragen in Afrika ein Ausdruck von Armut. Wer es sich leisten kann, holt sich das Wasser lieber aus der Leitung, als es mühselig vom nächsten Bach oder Brunnen heraufzutragen. Die Frauen selbst halten jedenfalls nichts von der Schlepperei auf dem Kopf. "Die Mädchen haben kaum Freizeit, weil sie mehrere Stunden am Tag Wasser und Feuerholz heranschaffen müssen, und die Frauen bekommen davon Kopfschmerzen", erfuhren Esther Kioko und Richard Bagine, zwei kenianische Forscher, als sie Betroffene auf den Dörfern befragten.

Sollte die Erforschung des perfekten afrikanischen Pendelgangs am Ende also ganz ohne praktischen Nutzen bleiben? Norman Heglund stört diese Vorstellung überhaupt nicht: "Wir machen Grundlagenforschung, keinen Gehunterricht für Europäer." Sein Kollege Cavagna klagt zwar über Rückenschmerzen, steigt aber trotzdem immer wieder gerne mit einem Bleihelm in den Kotzkometen. "Ich mache das doch nicht, weil es nützlich ist", sagt er, "sondern weil es mir Spaß macht."

aus:
Die Zeit
22.03.2002
von Dirk Asendorpf



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