Deutschland schwierig Vaterland

Geschrieben von franke43 am 10. November 2003 11:56:27:

Als Antwort auf: Re: Umfrage im Forum: Müssen wir jeden Tag etwas deutscher werden? geschrieben von Backbencher am 09. November 2003 23:03:28:

Hallo

>>Müssen wir jeden Tag etwas deutscher werden? - Bevor Du, wie getan, darauf >antwortest müsstest Du erst mal fragen, was denn unter 'deutsch' gemeint ist:
>> nationale Identität
>> kulturelle Identität (und dazu gehört auch schwerpunktmässig die Sprache)
>> abstammungsmäßige Identität

Da haben wir´s.

Die selbstquälerische Haltung von uns Deutschen zu unserer
Nationalität rührt nicht erst von der Perversion der NS-Zeit
und der Zwangsteilung danach. Sie rührt vom ausgehenden
Mittelalter her.

Was war damals ?

Das Kaisertum als zusammenhaltende Klammer hatte den Geist
aufgegeben. Die Kaiser im SpätMA zogen sich auf "Kronländer"
zurück, die in Österreich konzentriert waren, und überliessen
den Hauptteil des Heiligen Römischen Reichs den zentrifugalen
Kräften von Hochadel (Reichsfürsten), Niedrigadel (Ritterstand)
und aufstrebendem Bürgertum (freie Reichsstädte).

Dabei verfiel der Gedanke des "Heiligen" römischen Reichs
"deutscher Nation". "Deutsch" war fürderhin nur noch eine
sprachliche Klammer, die ausserdem durch zahlreiche Dialekte
von vornherein ausgehebelt war. Die neuen teilautonomen
Fürstentümer und Stadtstaaten entwickelten - unter örtlichem
dialektalem Einfluss - ihre eigenen "Kanzleisprachen". ein
Zusammengehörigkeitsgefühl des ganzen deutschen Volkes
existierte nicht mehr. Man war kurkölnisch oder kursächsisch
oder brandenburgisch oder Reichsstädter in Augsburg oder
Nürnberg oder herzoglich-württembergisch oder hanseatisch
etc. etc. etc. Z.B. die Hanse als freier Handelsbund von
praktisch unabhängigen Städten führte ein starkes Eigenleben,
auf das sich heute noch etliche deutsche Küstenstädte
berufen.

Luther gelang es durch die Sprachwahl kurzfristig die
Meisnische Kanzleisprache über die anderen Kanzleisprachen
zu erheben. Dieser kurze Erfolg wurde durch den verlorenen
Bauernkrieg (u.a. von Luther verraten) und durch die rasch
einsetzende Gegenreformation von Spanien und Österreich
(inzwischen mit eigenem Selbstwertgefühl !!) schnell zunichte
gemacht.

Der 30-jährige Krieg wurde eine wahre Orgie der zentri-
fugalen Kräfte, als Reichsfürsten fremde Herrscher ins Land
riefen: erst König Christian IV von Dänemark und später
Gustav II Adolf aus Schweden.

Die Konstellation der Siegermächte - ein erstarktes
Frankreich unter Richelieu und Mazarin und später Ludwig XIV
und die neue Grossmacht Schweden in Nordeuropa - liess
keinen nationalbewussten deutschen Staat mehr zu.

Dementsprechend herrschten bis Napoleon wechselnde
Konstellationen, in denen teilautonome Mächte wie Kursachsen
und Kurbrandenburg ("Preussen") nach völliger Autonomie
strebten und eigene "Könige" ausriefen. Der siebenjährige
Krieg wurde ja darum geführt, ob neben dem alten und
desavpouierten Machtzentrum Österreich - formell Sitz des
Kaisers im Reich - neue und völlig unabhängige Königreiche
mit eigenständiger Politik existieren und sich sogar auf
Kosten des alten Machtzentrums bereichern durften.

Nun: Preussen gewann zwei schlesische Kriege auf dem
Schlachtfeld und den dritten am Verhandlungstisch, und
damit war klar, dass es eine deutsche Einigung nur unter
einer dieser beiden Mächte und unter Ausschluss der anderen
geben würde. Sachsen war bereits zur Nebensache degradiert.

Napoleon versuchte die Karten neu zu mischen, aber er
verlor, und der kurzfristig hochgekochte gesamtdeutsche
Nationalstolz der "Befreiungskriege" erstickte in der
Metternich´schen Restaurationsära.

Der Krieg 1866 wurde dann darum geführt, ob Preussen
oder Österreich unter Ausschluss des anderen die vom
jeweils anderen unabhängigen Teile "Deutschlands" unter
sich vereinigen dürfe.

Österreich verlor, und Deutschland wurde unter Preussen
mit norddeutscher Dominanz über den Süden "vereinigt".

Ein Projekt des deutschen Volkes war diese Einigung mit
"Blut und Eisen" von Anfang an nicht. Die gemeinsame
Identität endete da, wo die alten Königtümer Bayern,
Württemberg und Sachsen und ein paar kleinere Fürsten-
tümer im neuen Konstrukt weiterbestehen durften. Nur
die gemeinsamen Siege gegen Frankreich - vor allem der
bei Sedan - hatten eine identitätsstiftende Wirkung für
alle Bewohner des neuen Bismarckschen Reichs.

Der Rest sind die weiteren Entwicklungen. Noch im 1. WK
trat Deutschland ja nicht als geeinte Gesamtmacht gegen
die Gegner an, sondern das Heer war zusammengesetzt aus
"nationalen" Regimentern der jeweiligen - monarchischen -
Teilstaaten.

Auf diese Weise wurde Deutschland bis 1918 wirksam
daran gehindert, ein ähnliches Nationalbewusstsein wie
z.B. das benachbarte Frankreich zu entwickeln. Die
Anfälligkeit für Hitlers übertriebenen Nationalismus
ist nicht nur durch die Niederlage im WK1 zu erklären,
sondern auch als Nachholbedarf für eine Art von
Nationalbewusstsein, die sich nicht früher und unter
ruhigeren Bedingungen entwickeln durfte.

Gruss

Franke



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