@Bonnie: Widdowson's Dekadenzbegriff, Kritik und eigene Überlegungen

Geschrieben von Andreas am 06. Oktober 2003 19:22:05:

>Hallo Andreas,
>ich finde diese Thesen ja faszinierend und sehr gut, daß du sie dem Forum nahe bringst !!
>Wie würde Widdowson "Dekadenz" in sein Begriffssystem einordnen ?
>Für mich ist Dekadenz entscheidend. Eine dekadente Gesellschaft geht unter und wir sind es m.E., ich nehme mich da gar nicht aus *gg*.
>Liebe Grüsse, Bonnie

Hallo Bonnie

Zur Dekadenz schreibt Widdowson auf seiner "ersten" Homepage:

Political decadence
Having achieved peace and order, people become more concerned with their rights; they become insubordinate; the government finds it harder to push through unpopular measures.

zu Deutsch: Haben die Menschen einmal Frieden und Ordnung (Rechtsicherheit) hergestellt, wendet sie ihre Aufmerksamkeit zunehmend den Rechten zu; für die Regierung wird es schwieriger, unbeliebte Massnahmen durchzusetzen.

Economic decadence
Having achieved comfortable lifestyles, people become resistant to innovation; they prefer to enjoy their wealth than to work hard at creating more.

Übersetzung: Nachdem die Leute einen angenehmen Lebensstandard erreicht haben, widersetzen sie sich zusehends weiteren Neuerungen; sie ziehen es vor, ihrem Reichtum zu frönen anstatt hart zu arbeiten und mehr davon zu schaffen.

Social decadence
Having achieved success, people lose interest in religion (they do not need its solace); they are less tolerant of misfortune and more selfish; the attitudes that led to success are de-legitimised.

Übersetzung: Haben die Leute einmal Erfolg gehabt, verlieren sie das Interesse an der Religion (denn sie brauchen ihren Trost nicht mehr); mit Rückschlägen und Schicksalsschlägen können sie schlechter umgehen und sie werden egoistischer; die Werte, welche mit zum Erfolg führten, verlieren ihre Legitimitation.

* * * *

kurzer Kommentar:
1. Die erste Aussage zur politischen Dekadenz besagt im Grunde das, was ich im letzten Mail anhand der konkreten Ereignisse der französischen und 68er Revolution noch etwas ausgemalt habe. Bezüglich der "sozialen Dekadenz" lässt sich einwenden, dass der "Erfolg" etwas sehr offen definiert ist (Immunisierungsstrategie: "Erfolg" ist dann eingetreten wenn die Leute die Religion aufgeben?!). Das gleiche gilt für "comfortable lifestyles". Wann ist es so "comfortable", dass eine Gesellschaft träge wird und an weiteren Innovationen/Erleichterungen für das Leben unineteressiert ist? Auch habe ich mich bei der sozialen Dekadenz gefragt, welches denn die Werte sind, die zum Zeitpunkt X zum Erfolg geführt haben.
Einerseits glaubt Widdowson nicht an Webers Kapitalismusthese [verkürzt: Arbeitsethik der Protestanten führte zu Hochkapitalismus und Wohlstandsmehrung]*), andererseits steht hier diese Aussage mit Werten, "die zum Erfolg führen". Da ist für mich ein gewisser Widerspruch drin.

2. Im Nachhinein scheint immer alles nachvollziehbar, aber ob man auf diese Weise Prognosen erstellen kann, ist eine andere Frage

Ich habe den "Dekadenzbegriff" immer für sehr heikel gehalten und dies Widdowson auch geschrieben. Wenn man will, kann man zu jeder Zeit und in jeder Gesellschaft dekadente Erscheinungen erkennen. Widdowson würde mir entgegenhalten, dass dies stimmt, allerdings versuche eine kohäsive Gesellschaft solche "Laster" mehr oder weniger rücksichtslos einzudämmen, während in einer diskohäsiven Gesellschaft "moralische" Indifferenz vorherrscht. So gesehen kann ich mit dem Begriff doch wieder leben. Man muss nur aufpassen, dass man nicht in die Abgründe der politischen Ideengeschichte hineingerät und von hehren Worten und abstrakten Gedankenkonzepten zu einer sehr subjektiven Betrachtungsweise verleitet wird ("Demokratie" hat uns "zum Erfolg" geführt). In Ansätzen, so wie ich es mit der Französischen Revolution getan habe, kann es rückblickend fruchtbar sein, das Problem ist die Prognose.

M. E. sollte man in jedem Falle stets darauf bedacht sein, neben den Veränderungen im moralisch-ideellen Bereich, die politische und wirtschaftlichen Veränderungen zu betrachten. Wenn man das nicht tut, so hat man am Schluss die Wahabiten, die ohne ihr Erdöl noch immer in den Zelten leben würden als kohäsive Gesellschaft zum Vorbild - also eine im Grunde sehr statische Sicht der Dinge.

Ein hypothetisches Beispiel zur Illustration: Nähmen wir an, wir lebten - im Frankreich des Jahres 1780 und wir hörten schon - ich spekuliere jetzt mal- damals leise diffuses Gemurmel von "Freiheit" und "Gleichheit" und "Nation". Nun, für diese Zeit könnte man genauso argumentieren, diese Ideen seien "dekadent", weil sie sich gegen die alten Werte richten (absolutes Königtum, durch Gott legitimiert usf.) und die Autorität untergraben. Wie entscheiden wir nun, ob ein Dark Age folgt oder nicht?
Ich sehe vorerst nur zwei "Lösungen":
1. Geht es mit dem Land schon seit längerem (=Jahrzehnte, Jahrhunderte?) wirtschaftlich bergauf? Wenn ja, so liegt die Schlussfolgerung auf der Hand, dass zwar eine Revolution mit Umgestaltung der politischen Arena als Folge seit langem wachsender kurzfristig enttäuschter Erwartungen droht, ein wirklich langes Dark Age jedoch nicht vor der Tür steht. Eine solche Situation ist m. E. für China gegeben. Ich habe eine Kurve vor Augen, die nicht auf einmal "abknickt", zwischen wirtschaftlichem Aufstieg und Niedergang muss es eine Phase der Stagnation geben. Das Problem ist wie weit der Fokus reicht. Schaut man etwa nur von, sagen wir mal, von 1910 bis 1929, so hätte man in dieser Zeit wohl schon das Gefühl gehabt haben, vor einem Dark Age zu stehen.

2. Wie offen/tolerant ist die neue Ideologie? Wird rücksichtslos gegen Gegner der neuen Ideen vorgegangen (man denke an Robbespierre oder Stalin) oder besteht ihr Ziel praktisch darin, dass alle alles tun können (Extremfall)? Je offener, schwammiger und indifferenter die Ideologie, desto dekadenter ist sie.

Vielleicht kann mit derlei Hilfskonstruktionen den Zustand einer Gesellschaft ermitteln.

Viele Grüsse
Andreas

*Für jene, die den Begriff der "protestantischen Arbeitsethik" nicht kennen. Weber sieht als herausragende Vertreter dieses Denkens so viel ich mich erinnern kann diverse Denominationen in den USA, die Presbyterianer und Puritaner Schottlands und Englands.


Antworten: