68er- Revolution und Zerfall der moralischen Kohäsion

Geschrieben von Andreas am 06. Oktober 2003 17:07:16:

Als Antwort auf: Re: rudimentäre Übersetzung (mit Interview) geschrieben von Bonnie am 06. Oktober 2003 11:33:00:

Hallo Bonnie

Ich habe die These Webers vor längerem und nur kurz am Rande überflogen, kenne mich da also nicht speziell aus. Widdowson selbst bestreitet dass gerade der Protestantismus für den wirtschaftlichen Aufschwung ursächlich verantwortlich sein soll und verweist etwa auf die katholische Handelsstadt Genau und andere Beispiele, die seine Argumentation belegen sollen. Die Theorie Webers ist sicherlich sehr interessant.

Ich sehe es genauso mit der "68-er-Revolution". Es ist dies der jüngste Schlenker einer langen Entwicklung, die sehr lange zurückreicht, m. E. bis zur Französischen Revolution. Seit dieser Zeit wurden die öffentlichen Forderungen nach mehr Freiheitsrechten immer lauter. Der Zusammenhang mit dem "Tod Gottes" fällt auch in den Kontext der Französischen Revolution, in welcher erstmals mit säkularen bzw. politischen Religionen (Nation, Freiheit u. ä.) hantiert wurde (Frühere Bauernaufstände suchten ihre Legitimation meist bei Gott). Es ist alles sehr interessant und kompliziert. Zwar stellt die französische Revolution den Beginn des modernen Nationalismus und somit der Nation dar. Wir dürfen allerdings nicht vergessen, dass die Staatsmacht mit den (Zwangsapparaten) Bürokratie, Steuererhebung und stehendem Heer vielerorts schon zuvor existierte, wenngleich sie sich anders legitimierte und territorial anders konstituierte (Fürstentümer; Preussen anstatt DR etc.). Ich würde sogar soweit gehen und sagen, dass das Gleicheitsprinzip und die Menschenrechte der Französischen Revolution sehr langfristig gesehen die Autorität des Staates untergraben haben. Diese Prinzipien bildeten letztendlich die Basis, von der aus viel später immer neue Minderheitenrechte, Diskriminierungsformen usw. gefunden wurden.
Somit kann man argumentieren, dass die französische Revolution nicht nur die "Abwertung" Gottes bzw. der moralischen Grammatik des Abendlands (die in ihren Anfängen noch weiter zurückreicht) in der Politik und damit auch dem öffentlichen Leben zusätzlich vorantrieb = Discohesion sondern auch der Verwässerung der Staatsmacht = Disintegration Vorschub leistete.
Der Faschismus stellte m. E. in gewisser Weise ein retardierendes Moment dar, auch wenn er selbst Elemente der Französischen Revolution aufgriff.

M. E. ist hier von langwierigen historischen Prozessen, "Pfadabhängigkeiten" und Verläufen die Rede, die wenn einmal eingeschlagen nicht mehr rückgängig zu machen sind - jedenfalls nicht durch eine simple politische Willensanstrengung auf eine konventionelle Art und Weise (Widdowson würde sagen: nur durch ein Dark Age, was mir etwas zu weit geht). Fest steht für mich auch, dass Links-rechts-Grabenkämpfe die Komplexität des Problems unterschätzen.

Gruss
Andreas

>Hallo Andreas, interessant in dem Zusammenhang sind auch die Thesen Max Webers, der aufzeigte, warum der Kapitalismus nur auf der Basis des reformierten Christentums erfolgreich sein konnte und welche Zusammenhänge es zwischen Religion und Wirtschaft gibt.
>Zusammengefaßt (bzw. das was hängengeblieben ist bei mir und was sich laufend bestätigt) bedeutet die Gedanken Webers, daß die Wirtschaft OHNE religiöse Moral der Gesellschaft entgleist.
>Unserer Gesellschaft fehlt schlicht und ergreifend die Moral. Sie ist verloren gegangen, spätestens mit den 68igern, die aber ihrerseits ohne Nazideutschland und 2. WK nicht möglich gewesen wären. Die 68iger haben den "Mief" und das "Spießertum" über Bord geworfen, propagieren "Egoismus" und "Spaß", aber leider geht damit alles den Bach runter :-). Es gibt in den Augen der Gesellschaft kein Leben nach dem Tod (Atheismus), also muß man dieses Leben nutzen und zwar egoistisch nutzen. Wen wundert es, daß sich jeder selbst bedient, wo er nur kann (siehe Politikerdiäten, Managergehälter). Es gibt keinen Gott mehr, der einen beurteilen könnte. Es gibt keine Belohnung für gutes und schlechtes Verhalten... Es gibt kein Gut und Böse mehr..
>Die Thesen Widdowsen etc. passen da ganz gut dazu.
>Liebe Grüsse, Bonnie



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