Re: @Hotel Noir: Industrialisierung, geistiges Wachstum und Widdowson
Geschrieben von Andreas am 04. Oktober 2003 12:05:29:
Als Antwort auf: Re: @Hotel Noir: Industrialisierung, geistiges Wachstum und Widdowson geschrieben von HotelNoir am 04. Oktober 2003 09:31:39:
>Ich betrachte es als längst bekannte Tatsache, das in der heutigen vernetzten Zeit Konflikte in viel grösserem Masse ausufern können als dies je der Fall war. Ich werfe dies Widdowson nicht vor, es ist ok beharrlich auf diese Zustände hinweisen. Ich denke aber nicht, dass es eine unkonventionelle oder revolutionäre Sichtweise ist. Sie dürfte z.B. den meisten die in diesem Forum mitschreiben und -lesen bekannt sein.
Es geht weniger um die Grösse der kommenden Konflikte, sondern um die fürchterliche Tiefe in die wir fallen Werden. Widdowson spricht oft von einem "castrophic unravelling of the system" - einem katastrophalen Auseinanderbrechen des Systems. Es gibt nicht einfach irgendein Chaos, sondern er hat sehr konkrete Vorstellung, wie der kommende Abstieg und der Zustand des Dark Age beschaffen sein wird. Viele im Forum glauben, nach einem kurzen, heftigen Knall werde es an den Wiederaufbau gehen. Wenn man Widdowson gelesen hat, mag man nicht mehr so recht daran glauben. Viele werden sich etwa auch nicht ausmalen, dass es nach einem kurzen atomaren Gefecht noch für eine Zeit lang weitergeht bis wir endgültig im Dark Age angekommen sind. Fazit: Viele haben eine diffuse Furcht vor einem "Crash", der kommen wird. Noch viel diffuser ist die Meinung über die Ursachen. Ich möchte jetzt einmal behaupten, dass man die Logik nach denen sich Niedergang und Aufstieg von Reichen vollziehen welche Widdowson aufzeigt, nicht "einfach so" aus dem Geschichtsunterricht kennt. Man hat vielleicht einmal etwas davon gehört, dass Reiche untergehen und aufsteigen, aber die systematische Erklärung der Begriffe Integration, Organisation und Cohesion wird kaum stattgefunden haben.
Richtiger ist: Wir sind es uns aus dem Geschichtsunterricht einfach gewöhnt, die kriegerische und machtpolitsche Entwicklung als "die Geschichte" zu betrachten. Es ist unsere Optik. Wir betrachten das Entstehen und Verwalten von Machtterritorien als DER Moment in der menschlichen Entwicklung, die vielen anderen Entwicklungen, wie Kunst oder Spiritualität sind Angelegenheiten von Experten - dies dann wiederum meistens machtpolitisch interpretieren. Das ist auch ein Grund weshalb ich ein wenig Mühe habe mit Widdowson: Er hält seine "Zukonditioniertheit" für Realitätssinn.
Widdowson ist Anthropologe und er dürfte somit eine minimale Ahnung von anderen Völkern haben. Seine Annahme Human nature is largely the same in all places at all times ist eine verallgemeinernde aber nichtsdestotrotz vernünftige Prämisse. Wichtig ist zu erkennen, dass er nicht von Sitten und Gebräuchen spricht, sondern von grundlegenden Wesenszügen.
Die Entstehung von Integration oder verwalteten Machtterritorien ist eben eine fundamentale Voraussetzung dafür, dass in den anderen Bereichen wie der Technologie, dem Kunsthandwerk grosse Leistungen erzielt werden. Spezialisation muss sich lohnen. Es muss Leute geben, die sich für solche Produkte interessieren und es muss ein minimales Mass an Schutz gewährleistet sein. Die Herausbildung der Territorialstaaten hat direkt mit diesen Errungenschaften zu tun. Es ist nicht ein unerklärliches Eingreifen einer höheren Gewalt verantwortlich, sondern der Modus menschlichen Zusammenlebens. Aber natürlich kann man auch diese Erkenntnis auf irgendeine Weise als banal darstellen.Die Evolution kann unter zwei Aspekten betrachtet werden: positivem und negativem Feedback. Positives Feedback ist das Finden der Homöostase auf gleichem Level wie z.B. Essen oder Trieb. Negatives Feedback ist ein Finden der Homöostase auf höherem Niveau, was Erkenntnisse und Fortschritt in jeder Form bezeichnet (Positiv und Negativ sind keine Wertungen!) Es scheint, dass Widdowsons Optik da auf die Homöostase durch positives Feedback ist. Das ist natürlich so, wir haben noch die selben säugetierischen Eigenschaften wie vor 5000 Jahren. Jedoch gibt es auch so etwas wie eine evolutionäre Entwicklung der menschlichen Spezies, die auch neurobiologisch nachweisbar ist. Warum negiert Widdowson dies?
Das ist auch wieder eine grobe Simplifizierung, die Du vornimmst. Widdowson geht es nicht nur um "Essen und Trieb", sondern es geht ihm als Anthropologen darum, dass der heutige Mensch im Grunde noch immer eine ganz bestimmte Lebensweise oder sozialen Modus bevorzugt. Es kommt wohl sehr darauf an, was Du unter "Erkenntnissen und Fortschritten" verstehst. So wie ich Widdowson verstehe, argumentiert er, dass die Zeit seit der wir in Städten leben und Ackerbau betreiben, aus evolutionsbiologischer Sicht viel zu kurz ist um einen nachhaltigen Einfluss gegen die weit stärkeren Prägungen aus der Jäger- und Sammlerzeit auszüben.
Ja da sind wir wieder bei der Frage: Spricht er von Realität oder von seiner kulturellen Konditionierung. M.E. ist seine Sichtweise ziemlich eingeschränkt
M. E. hat er eine interessante Theorie sozialen Wandels vorgelegt. Unter der Prämisse, dass die grundlegenden Züge derr menschlichen Natur zu allen Zeiten und an allen Orten dieselben sind entwickelt er eine Theorie, die m. E. interessante Einblicke in das Entstehen, das Funktionieren, den Wandel und die Ursachen des Niedergangs menschlicher Grossgemeinschaften ermöglicht. Sein grosses Wissen über andere Zeiten und andere Völker sowie sein Einbeziehen von Erkenntnissen aus verschiedenen Disziplinen sind für mich ein Beleg dafür, dass seine Sichtweise nicht beschränkt ist, sondern darum bemüht, die Möglichkeiten des heutigen Wissensstandes umfassend auszuschöpfen.
Gruss
Andreas