N - östliches Mitteleuropa - Hintergründe atmosphär. Störungen

Geschrieben von Freiwild am 05. April 2003 16:36:32:

Als Antwort auf: N - Polen : Kommunalwahlen - "Rechtsruck" geschrieben von Freiwild am 05. April 2003 16:21:23:

Atmosphärische Störungen über Mitteleuropa


28. Februar 2002. Die Ministerpräsidenten Polens, Tschechiens, der Slowakei und Ungarns wollten sich am heutigen Freitag in Budapest treffen. Es sollte eine gemeinsame Antwort gefunden werden auf die Vorstellungen der Brüsseler EU-Kommission zum Thema Erweiterung und Agrarsubventionen für die neuen Mitglieder. Die Vorstellung, auf Jahre nur ein Viertel der üblichen Fördersummen zu erhalten, schmeckte allen nicht. Doch der Gipfel kam nicht zu Stande.

Schuld daran war auch hier der Streit um die Benes-Dekrete. Ungarns Premier Viktor Orban hatte bei einem Auftritt vor dem Europarat deren Aufhebung verlangt, da seiner Ansicht nach ansonsten eine Mitgliedschaft Tschechiens und der Slowakei "schwer vorstellbar" sei. Später legte er noch nach: "Hunderttausende Ungarn wurden ihrer Rechte in der Tschechoslowakei beraubt. Wir beabsichtigen nicht, darüber zu schweigen." Nach den Benes-Dekreten waren auch Ungarn - vor allem aus der Slowakei - vertrieben worden.

In der Slowakei hatte trotz der augenblicklich gespannten Beziehungen niemand mit einem Angriff aus dieser Richtung gerechnet. Die Forderung nach Aufhebung der Dekrete erhebt dort nicht einmal die Partei der ungarischen Minderheit. In Prag lösten Orbans Äußerungen einen Sturm der Entrüstung aus. Damit werde die gesamte Nachkriegsordnung in Europa in Frage gestellt, hieß es. Tschechien wie die Slowakei sagten die Teilnahme am Gipfel ab. Da sah auch Polens Premier keinen Sinn mehr, nach Budapest zu reisen.

In Budapest werden die Absagen offiziell bedauert. Inoffiziell sind jedoch vor allem die Wirtschaftsberater Orbans froh. Sie hatten wenig Sympathie für die Einheitsfront der Mitteleuropäer. Die Ungarn fürchteten vielmehr, die Erweiterung könnte unter Umständen verschoben werden, weil sich die EU auf eine gemeinsame Aufnahme aller Kandidaten festgelegt habe, Tschechien, die Slowakei und Polen aber möglicherweise noch gar nicht reif seien.

Deshalb, so möglicherweise Orbans Kalkül, täte größere Distanz zu den Nachbarn ganz gut. Die Frage der Agrarsubventionen ist für Budapest weit weniger drängend als für die anderen. Auf dem Lande arbeiten in Ungarn weniger als sechs Prozent der Bevölkerung (Polen: rund ein Drittel). Der Streit zwischen Prag, Wien und Berlin um die Benes-Dekrete schien Orban offenbar eine günstige Gelegenheit, den Konvoi der Visegrad-Gruppe zu sprengen. So kann er bei einer möglichen Verzögerung der Aufnahmeverhandlungen nicht in Kollektivhaftung genommen werden.



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