Die Goldene Rezession
Geschrieben von Neues Licht am 11. Dezember 2002 19:55:03:
Interessanter Text m.E. (gefunden auf www.TAC2000.de )
Die Goldene Rezessionvon Matthias Horx
Im Monat der Lichter zählt jeder Kassenbon: Kaufen gegen die Krise, Konsumieren für den Aufschwung! Doch der Konsument, das sonst willfährige Wesen, verweigert die Kreditkarte. Noch ein Indiz dafür, dass von allen wirtschaftlichen Szenarien für die kommenden Jahre die Goldene Rezession die wahrscheinlichste ist. Charakteristisch für dieses Phänomen ist:
a) die Konjunkturkurve zeigt eine mehr oder minder holperige Dauerlinie zwischen minus und plus einem Prozent,
b) alle jammern über diesen Zustand. Und alle richten sich komfortabel darin ein.Eine ketzerische Frage: Ist das eigentlich schlecht?
In Japan herrschen seit einem Jahrzehnt Bankenkrise, Filz und Deflation. Aber wer in Tokio auf den Straßen flaniert, erlebt ein leuchtendes Wirtschaftswunderparadies. Luxusgüter werden an jeder Ecke inszeniert, die jungen Frauen sind erotischer gekleidet denn je. Die Preise sinken unaufhörlich, jeder Einkommensverlust wird kompensiert. Entstanden ist eine sarkastische, hoch kreative, zu virtuellen Spielen neigende Kultur. In Japans 30 Fernsehsendern laufen rund um die Uhr Karaoke-Brüllorgien und Sahnetortenattacken auf nackte Hintern. Das erinnert stark an den Dieter-Bohlen-Kult.
Oder die Schweiz: Seit einem guten Dezennium befindet sich unser Nachbar in einer vergoldeten Stagnation. Die Sparzinsen liegen bei höchstens 0,5 Prozent, das BSP-Wachstum ist nicht der Rede wert. Und die Schweizer? Sind ein bisschen verunsichert und diskutieren über das Verhältnis zu Europa – wie seit zwei Jahrhunderten. Das „grounding“ macht zu schaffen, der Verlust der stolzen Swissair. Aber schon fliegt die neue Airline, deren Logo vom Londoner Designer Tyler Brûlé so supercool gestaltet wurde, dass der Unterschied zu vorher gar nicht auffällt. Niemand würde bestreiten, dass es sich in der Schweiz gut leben lässt, und zwar materiell und kulturell und sozial.
Goldene Rezession ist jenes Reifestadium, in das satte Gesellschaften eintreten, wenn in ihnen die dynamischen Kräfte der sozialen Unterschiede erlahmen. Man neigt dazu, das Erreichte zu sichern. Man vermeidet hungrige Zuwanderer, störende Kinder, ökonomische Unwägbarkeiten. Man spart, baut ab, rationalisiert, schützt die Latifundien. So entsteht inmitten unermüdlicher (und chronisch vergeblicher) Reformversuche des Staates ein austariertes Netzwerk aus Interessenvertretern, Transfergewinnern und Nischenbewohnern.
Noch einmal: Ist das eigentlich schlecht? Hat eine demokratische Gesellschaft nicht das Recht, so zu leben – in wohlanständiger Stagnation mit eingebautem Klagemodus? Was wäre, wenn die Goldene Rezession kein Ausrutscher, keine Krise oder Phase, sondern die Zielgerade unserer ökonomischen Mentalität wäre? Ihre Wohlstandswellness schmeckt uns ungleich besser als die revolutionäre Aufgeregtheit der New Economy. Sie erspart uns das Gewusel einer globalen, offenen Konkurrenzgesellschaft mit ihren fiebrigen Märkten und ihrer hektischen upward mobility.
Südkorea wächst um sechs Prozent im Jahr. Von den alten Konglomeraten mit ihren Postenhierarchien und Verbeugungsritualen ist kaum ein Stein geblieben. Die Großstädte sind eine brodelnde Mixtur aus Tradition und Moderne. Philippinische „maids“ bieten Haushaltsdienste an jeder Ecke an, damit diejenigen, die durch extreme Bildungsanstrengungen auf den steilen Pfad nach oben kamen, bis zum Exzess arbeiten können. Minoritäten werden erst schamlos ausgebeutet und dann, wenn sie sich eine Nische erobert haben, integriert – nicht selten werden sie zur neuen dominanten Mittelschicht. Die Spielregeln sind ruppig, bisweilen grausam.
China vollzieht den heiklen, brachialen Übergang vom agrarischen Zeitalter direkt in die postindustrielle Moderne. Mexiko verringert seine Armutsquote jedes Jahr um zwei Prozent. Indien ist nur noch in den nordöstlichen Landesteilen ein Hungerstaat – 250 Millionen Mittelschichtangehörige bilden den größten ungesättigten Konsummarkt der Welt, und jedes Jahr verlassen 100 000 Ingenieure und Computertechniker die erstklassigen Universitäten. Ägypten, auch ein Wachstumsgigant, wächst aus der turbulenten Dynamik seiner Großstädte heraus, aus Kleinhandel, unendlicher Emsigkeit und dem Hunger der Habenichtse.
Wie lange unser goldenes Modell gut gehen kann? Lange. Wir haben Reserven. Solange wir im Abendrot des europäischen Kapitalismus verharren, haben andere eine Chance. Vielleicht sind wir in 20 Jahren die verlängerte Werkbank von Malaysia–Korea. Und die Alpen werden zum gemütlichen Themenpark – als Altersheim für wohlhabende Chinesen.
Wer die globale Gerechtigkeit befürwortet – und wer täte das nicht? –, wie könnte der dagegen sein?
M. Horx ist Leiter des Zukunftsinstitut mit Sitz in Wien.
- gute oberflächliche Analyse, aber das Monetäre hat Horx noch nie verstanden!! Georg 12.12.2002 09:13 (0)
- Re: Die Goldene Rezession HotelNoir 11.12.2002 23:26 (0)
- Re: Die Goldene Rezession Apollo 11.12.2002 20:25 (2)
- Re: Die Goldene Rezession Astro 11.12.2002 22:56 (0)
- Re: Die Goldene Rezession Eraltho 11.12.2002 20:47 (0)
- Re: Die Goldene Rezession Thymos 11.12.2002 20:18 (4)
- ein Österreicher, der aus Hamburg stammt!! (o.T.) Georg 12.12.2002 09:04 (0)
- Aber ein bißchen Wahrheit ist schon drin! Zak McKracken 11.12.2002 22:09 (2)
- Re: alternde Konsumgesellschaft Ghost 11.12.2002 23:14 (0)
- Re: Aber ein bißchen Wahrheit ist schon drin! HotelNoir 11.12.2002 22:47 (0)