Schröder zu leise - Die Amerikaner lieben deutliche Kritik

Geschrieben von Freiwild am 20. September 2002 00:07:38:

Gerhard Schröder war noch viel zu leise: Die Amerikaner lieben deutliche Kritik
Vom Nachteil, kein Amerikaner zu sein / Von Norman Birnbaum

Angenommen, ein wiedergewählter Kanzler Gerhard Schröder würde dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den Vorschlag unterbreiten, einen Regimewechsel in den Vereinigten Staaten zu erzwingen - weil die amerikanische Außenpolitik die eines Schurkenstaates sei, weil das amerikanische Wahlsystem einige Grundprinzipien der Demokratie ignoriere und weil der amerikanische Kapitalismus nur durch einen Wechsel zur Sozialen Marktwirtschaft zivilisiert werden könne. 262 Jahre nach der Verkündung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, so könnte der Kanzler argumentieren, seien deren Versprechen immer noch unerfüllt. Eine internationale Streitmacht müsse die Vereinigten Staaten vor sich selbst retten. Was würde geschehen?
Vermutlich würde Edmund Stoiber in einer ersten Reaktion erklären, er stimme im Prinzip zu, müsse Schröder aber vorwerfen, den deutschen Föderalismus nicht energisch genug als Vorbild für eine reformierte amerikanische Verfassung beschworen zu haben. Das Pentagon würde ankündigen, die Zahl der Nachbarschaftsfeste auf den amerikanischen Stützpunkten in Deutschland zu vervielfachen. Das Außenministerium in Washington ließe verlauten, daß die Zusammenarbeit zwischen den beiden Nationen nicht gefährdet sei, da sich Offenheit unter Freunden von selbst verstehe. Nur die eigens aus der Reklameindustrie rekrutierte Medienberaterin von Colin Powell würde deutlicher werden: Es sei klar, daß Schröder die falschen Bücher gelesen habe. Von der israelischen Lobby käme die übliche Reaktion in Form des klassischen Telegramms aus Jerusalem: Fangt an, euch Sorgen zu machen, Details folgen. Und unsere Deutschland-Experten würden wie ein Mann einen einzigen Gedanken verkünden: Schröders Vorschlag ist ein Wahlgeschenk an die Linke.
Das Problem meines Gedankenspiels besteht darin, daß ungewiß ist, ob sich neben den Genannten irgend jemand in den Vereinigten Staaten um die Initiative des Kanzlers scheren würde. Wir bewohnen einen gewaltigen Kontinent, der die größte geistige Provinz der Welt ist. Nur einer von vier Amerikanern liest regelmäßig eine Tageszeitung, und nur jeder fünfte interessiert sich für Nachrichten aus dem Ausland. Was immer in Deutschland geschehen mag, es wird kaum je die Turbulenzen an der Börse oder einen spektakulären Mordprozeß aus den Schlagzeilen verdrängen. Und wenn sich doch einmal ein Ereignis im Ausland in die Abendnachrichten verirrt, dann bestärkt es nur den in Amerika verbreiteten Eindruck, der Rest der Welt leide vor allem unter einem gewaltigen Nachteil: nicht die Vereinigten Staaten zu sein.
Was war noch mal in Hambach?
Das erklärt den Neid, den Groll und das Unverständnis, mit dem immer wieder auf unser bewaffnetes Wohlwollen reagiert wird. Die europäische Vorliebe für Krankenversicherungen, Umweltschutzgesetze, öffentliche Investitionen in Bildung und Verkehr und überhaupt die Zweifel der Alten Welt an der Identität von Markt und Gesellschaft gelten hierzulande als Beweise seltsamer Rückwärtsgewandtheit. Auch die europäische Abneigung gegen die Todesstrafe und der Widerwille gegen den Einsatz militärischer Mittel scheinen von der Unfähigkeit des alten Kontinents zu zeugen, zwischen Dichtung und Wahrheit zu unterscheiden. Daß Europäer wirtschaftliche Risiken scheuen, irritiert zumal amerikanische Ökonomen, die sich lebenslanger Arbeitsplatzgarantien in Universitäten und internationalen Organisationen erfreuen. Die europäische Friedenssehnsucht wird von Schreibtischhelden gerügt, die nie Militärdienst geleistet haben.
Vor diesem Hintergrund lassen sich die öffentliche Indifferenz in den Vereinigten Staaten gegenüber der Ankündigung der deutschen Regierung besser verstehen, sich nicht an einem Krieg gegen den Irak zu beteiligen - und die heftigen Reaktionen in unserer außenpolitischen Elite. Viele von ihnen scheinen von einer ideologischen Variante des Veitstanzes befallen. Sie sprechen in Orwellscher Einmütigkeit: Schröder biedere sich der Linken an. Er isoliere sich von den anderen Europäern (ein Vorwurf, den vor allem jene erheben, die üblicherweise behaupten, die Europäer könnten sich sowieso nie einigen). Er habe Deutschlands Gewicht in der Welt auf Null reduziert - ein beliebter Hinweis derer, die sich sonst stets über den Irrglauben der Europäer mokieren, sie besäßen irgendeinen Einfluß. Die "Washington Post" deutete an, Schröder fehle es an Mut: Ausweis der amerikanischen Vorliebe, internationale Angelegenheiten als Exerzierplatz männlicher Tugenden zu betrachten. Aber auch die Enttäuschung, die die CDU/CSU bei ihren Freunden in Amerika ausgelöst hat, provozierte betretenes Schweigen. Es war schon schlimm genug, daß Stoiber erklärte, er wolle in der Wirtschaftspolitik keine amerikanischen Verhältnisse. Ein Schock jedoch war es, daß auch er die Solidarität mit Amerika nicht zum Glaubensbekenntnis erhob. Alteingesessene Atlantiker in Washington trauern bereits großen Bayern wie Richard Stücklen nach.
Viele, die in diesen Chor eingestimmt haben, wissen sehr wenig über Deutschland. Das gilt leider auch für viele unserer Deutschland-Experten. Sie sind von intimen Kenntnissen deutscher Kultur und Geschichte unbelastet. Die meisten von ihnen haben Wirtschaftswissenschaften, Jura oder Politik studiert, wohl auch einige Zeit in Deutschland verbracht, aber sie kennen meist nur ihre deutschen Kollegen. Die wenigsten Amerikaner, die sich mit "internationaler Sicherheitspolitik" beschäftigen, dürften den "Rückversicherungsvertrag" kennen, das Hambacher Fest oder die Bedeutung des Historikerstreits. Kaum einer von ihnen weiß, wer Fritz Fischer war, und die Debatte über die Wiederbewaffnung ist ihnen völlig fremd. Von der Geschichte ihres Heimatlandes wissen sie auch nicht viel mehr. Kurz, sie sind Karrieristen, die nichts so sehr fürchten, wie als Exzentriker verschrieen zu werden. Deshalb bevorzugen sie räumliche Beschreibungen von Politik, in denen es darauf ankommt, in der Mitte zu stehen statt am Rand. Die Kategorien von richtig oder falsch verblassen dagegen.
Natürlich gibt es Ausnahmen, aber nicht selten sind unsere Generäle nachdenklicher als unsere Professoren. Wohl wahr, es lehren einige glänzende Deutschland-Kenner an unseren Hochschulen. Aber differenziertes Denken ist kein Vorzug im Ringen um Einfluß auf die amerikanische Politik. Solange wir nicht den öffentlichen Raum wieder fruchtbar machen, der von jener Hälfte der Bevölkerung verwüstet worden ist, die nicht wählen geht, so lange wird auch unsere Debatte über auswärtige Politik von den Halbgebildeten beherrscht werden.
Schröder fehlt ein Weltbild
Hat nun Schröders Ablehnung einer Invasion im Irak den amerikanischen Kritikern von Bushs imperialen Ambitionen geholfen? Es gibt ja durchaus Kongreßabgeordnete, die erhebliche Zweifel an der Weisheit und Notwendigkeit eines Schlages gegen den Irak haben. Unter ihnen sind viele schwarze Parlamentarier, da deren Wähler, nicht die Stimmberechtigten in den wohlhabenden Vororten, sich um ihre Söhne in der Armee sorgen müssen. Auch Tom Daschle, der Sprecher der demokratischen Mehrheit im Senat, und der demokratische Präsidentschaftskandidat John Kerry aus Massachusetts geben sich bislang skeptisch. Aber alles in allem sind die Demokraten ebenso provinziell wie die Republikaner. Nur sehr wenige der wichtigsten sozialkritischen Abgeordneten pflegen Kontakte mit ihren Kollegen im Deutschen Bundestag. Die SPD ihrerseits hat lange auf "New Democrats" wie Al Gore und Senator Lieberman gesetzt, die freilich in Fragen von Krieg und Frieden mit der Israel-Lobby übereinstimmen. Die jüngste Wende in der innenpolitischen Debatte in Amerika hin zu Fragen von Umverteilung, Regulierung und sozialem Ausgleich hat die SPD jedenfalls überrascht. Es ist aber genau diese Wende, die eine Voraussetzung für die Ablehnung der Außenpolitik der Bush-Regierung ist: Ein sich imperial gerierendes Amerika kann sich weder ökonomisch noch moralisch die soziale Demokratie in der Tradition des "New Deal" leisten.
Wenn Schröder jetzt kurz vor der Wahl wegen seiner Irak-Politik Opportunismus vorgeworfen wird, so hat er sich das selbst zuzuschreiben. Er hat sich um Politikfelder wie die Bekämpfung der globalen Armut oder den Entwurf einer neuen internationalen Ordnung nicht gekümmert. Sein Widerstand gegen einen Krieg mit dem Irak wäre einleuchtender, wenn er Teil einer schlüssigen Weltsicht wäre. Zur Durchsetzung dieses Weltbildes aber hätte Schröder erheblich größere Anstrengungen unternehmen müssen, die deutsch-französischen Beziehungen zu modernisieren. Und er wäre verpflichtet gewesen, der britischen Labour Party therapeutische Hilfe anzubieten, um Tony Blair von einer englischen Krankheit zu heilen: systematische Heuchelei.
Schröders Irak-Initiative schließlich hätte auch mehr Resonanz in den Vereinigten Staaten gefunden, wenn ihr ein energischeres deutsches Engagement für eine neue internationale Gesellschaftsordnung vorangegangen wäre. In der amerikanischen Zivilgesellschaft existiert ein breites Spektrum von Gruppen - die katholische und fortschrittliche protestantische Kirchen, säkulare und liberale Juden, Umweltschutz- und Menschenrechts-Aktivisten, Fraueninitiativen, Gewerkschaften - deren Ansichten über Amerikas Rolle in der Welt sich grundlegend von Bushs ängstlichem Triumphalismus unterscheiden. Ein Europa, das sich zu seinen Traditionen bekennen würde, zu den christlich-sozialen wie zu den sozialdemokratischen, würde eine großmütige Außenpolitik befördern. Im vergangenen Jahrhundert, vor allem in den ersten Jahrzehnten, haben wir viel von Europa gelernt. Noch immer gilt: besser spät als nie.
Schröders Weigerung, sich am Krieg zu beteiligen, ist eine Rückkehr zu den Quellen seines politischen Engagements. Wie die deutsche Öffentlichkeit würde er gut daran tun, die Attacken jener zu ignorieren, deren Geschichtsphilosophie "Ihr seid entweder für uns oder gegen uns" ein Ausdruck geistiger Armut ist. Schröder, wie unvollkommen auch immer, hat seine Schlüsse aus der deutschen Geschichte gezogen. Während ich dies schreibe, versucht der amerikanische Regierungsapparat verzweifelt, das Undenkbare zu verhindern: eine internationale Vereinbarung, die einen Krieg gegen den Irak überflüssig machen würde. Eine neue deutsche Regierung, soviel kann man als Kulturkritiker feststellen, wird daher in Zukunft, wenn sie es ernst meint, häufiger mit den Vereinigten Staaten streiten müssen, nicht weniger. Es ist Schröders Verdienst, nicht vom wahren Schlachtfeld geflohen zu sein.
Aus dem Amerikanischen von Heinrich Wefing.
Der Autor, Jahrgang 1926, ist Professor emeritus an der Georgetown University, Washington, D.C. Wir setzen mit seinem Beitrag die Diskussion über Gerhard Schröders Abwendung von der "uneingeschränkten Solidarität" mit den Vereinigten Staaten fort, die Christian Geyer (Feuilleton vom 18. September) eröffnet hat.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.09.2002, Nr. 219 / Seite 39


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Freiwild



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