Gefühlte Inflation

Geschrieben von peacemaker2002 am 11. Juni 2002 13:29:03:

hi meine lieben, ein sehr interessanter bericht....


Gefühlte Lügen

Warum Ökonomen und Inflationsstatistiker sich bei der Wetterforschung bedienen

Der Euro hat geschafft, was Hans-Olaf Henkel zeit seiner Amtsperiode als BDI-Chef erfolglos forderte: das Sozialhilfeniveau um zehn bis zwanzig Prozent abzusenken. Etwa diese Größenordnung dürfte der Schnitt ins Fleisch der Ärmsten infolge verteuerter Lebensmittel im letzten halben Jahr erreicht haben. Es trifft jene besonders hart, aber es trifft natürlich nicht nur sie. Mag die Konsequenz für den einen der definitive Umstieg auf Konservengemüse, für andere dagegen »nur« der Verzicht auf einen Restaurantbesuch oder die bescheidenere Urlaubsplanung sein - Otto Normalverdiener spürt, daß die Teuerung an seinem Lebensstandard zehrt, und ist sauer. Und da wir uns im Wahljahr befinden, hat die Schröder-Koalition beschlossen, diese Säuernis zu teilen. So offenbart Hans Eichel der entsetzten Nation, daß er sich seine Eiskugel in Reichstagsnähe bald nicht mehr leisten könne, Gerhard Schröder ruft dazu auf, Preistreiber mit Kaufverachtung zu strafen, und Frau Renate Künast nimmt sich mitten im Nitrofen-Streß die Zeit, einen »Anti-Teuro-Gipfel« zu veranstalten.

Scheinbar viel Trara um nichts, denn die offizielle Inflationsrate lag im Mai bei 1,2 Prozent, und damit so niedrig wie lange nicht mehr. Allerdings haben auch die Ökonomen begriffen, daß eine derartige Kluft zwischen Alltagserfahrung und Statistik die Gefahr birgt, daß ihr Zahlenwerk und ihre Rechenspiele bald von niemandem mehr ernst genommen werden. (Die herrschende Wirtschaftslehre besteht zwar zu wesentlichen Teilen darin, den Leuten ein X für ein U zu verkaufen; aber es ist nie ratsam, Mehrheitsmeinungen einfach für verrückt zu erklären.) Also wurde flugs ein neuer Begriff erfunden und ist seither in aller Munde: der Begriff der »gefühlten Inflation«. Die Grundidee stammt aus der Wetterforschung. Dort wird seit einigen Jahren neben der realen auch die »Fühltemperatur« ermittelt. Es gibt wissenschaftlich nachvollziehbare Gründe, weshalb die Leute fünf Grad Celsius mal wärmer und mal kälter finden. Gefühlte Inflation soll in Analogie dazu heißen: Wir, die Ökonomen, verstehen, warum ihr alle den Eindruck habt, die Preise stiegen an. Wir können sogar messen, wie stark dieser Eindruck ist. Aber so, wie die reale Temperatur selbstverständlich von der »gefühlten« unabhängig ist - fünf Grad sind genau fünf Grad, nicht mehr und nicht weniger - so entspricht die reale Preisentwicklung der offiziell ermittelten Rate und nicht etwa den »Fühlwerten«.

Die Frage ist von Belang, denn die Inflationsrate ist nicht irgendeine statistische Zahl, sondern ein einflußreicher Parameter, an dem verteilungspolitische Entscheidungen hängen. Fürs erste Quartal 2002 wurde eine »gefühlte Inflation« von 4,8 Prozent ausgewiesen. So sehr man sich hüten mag, den heutigen Gewerkschaftsspitzen irgend etwas nicht zuzutrauen: Erstreikte Tarifabschlüsse mit einer drei vorm Komma wären bei einer offiziellen Inflationsrate von 4,8 Prozent schwer vorstellbar. Normalerweise entstünde bei derartiger Teuerung auch ein Druck, soziale Leistungen und Renten wenigstens partiell anzupassen. »Gefühlte« Werte dagegen sind irrelevant.

Nun soll nicht behauptet werden, daß genau die 4,8 Prozent die reale Preisentwicklung widerspiegeln. Das Problem ist vielmehr, daß - anders als bei der Lufttemperatur, zu deren Messung man einfach ein Thermometer in den Wind hält - für die Preisentwicklung einer Volkswirtschaft kein wirklich objektives Maß existiert. Darin besteht die Lüge der Wetter-Analogie. Die bundesdeutsche Inflationsstatistik etwa nimmt einen Warenkorb zum Ausgangspunkt, der 750 Güter und Dienstleistungen in unterschiedlicher Gewichtung enthält und der alle fünf Jahre angepaßt wird. Er soll in seiner Zusammensetzung den durchschnittlichen Konsum eines Durchschnittshaushalts repräsentieren. Aber einen solchen Durchschnittshaushalt gibt es nicht. Der Konsumkorb eines Langzeitarbeitslosen und der eines renommierten Wirtschaftsanwalts haben kaum etwas gemein. Nicht wenige der 750 Güter, die in die Inflationsrechnung eingehen, finden sich im Einkaufsbeutel des unteren Bevölkerungsfünftels überhaupt nie.

Wenn, wie derzeit, die Preise für Grundbedarfsgüter kräftig anziehen, die langlebiger Gebrauchsgüter und Markentextilien dagegen teilweise sogar sinken, dann bluten naturgemäß die am meisten, deren Einkommen kaum mehr als den Grundbedarf deckt. Wird Brot um 20 Prozent teurer, und werden Spülmaschinen um 20 Prozent billiger, ergibt das, bei gleicher Gewichtung, eine Inflationsrate von null. Nur, was nützt das dem, der keine Spülmaschine kauft, sei es, weil er sie sich eh nicht leisten könnte, sei es, weil er gerade wegen der höheren Brotpreise auf größere Anschaffungen verzichtet? Für ihn liegt die Teuerung bei 20 Prozent und keinen Deut drunter. Die Inflationsrate - und zwar die reale, keineswegs bloß eine »gefühlte« - differiert erheblich mit der Einkommensklasse. Auch solche Differenzen ließen sich wissenschaftlich abschätzen. Das freilich war auf Künasts »Teuro-Gipfel« ebensowenig Thema wie die Ursachen steigender Preise, die keineswegs in der neuen Währung als solcher liegen.



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