Re: Verfassungsgericht kippt Gesetz über den EU-Haftbefehl
Geschrieben von Johannes am 18. Juli 2005 23:20:11:
Als Antwort auf: Re: Verfassungsgericht kippt Gesetz über den EU-Haftbefehl geschrieben von Mulder911 am 18. Juli 2005 21:36:34:
> Aufgrund des historischen backgrounds sehen andere Länder das natürlich
> lockrerer.
Hallo Mulder,
ja und nein, andere Länder sehen es noch viel enger. Die USA würden z.B. niemals einen eigenen Staatsbürger an ein anderes Land ausliefern. Und noch kann man die USA nicht als ein einzelnes Land wie die USA betrachten, denn die EU-Verfassung ist noch nicht in Kraft. Und ich glaube auch kaum, daß jemand von Utah an Kalifornien ausgeliefert wird, wenn sein Verbrechen in Utah nicht strafbar war (und genau mit diesem Hinweis auf die Vermeidung von Schlupflöchern argumentierte der Prozeßvertreter der Regierung gegenüber der Presse - es soll ausgeliefert werden, damit Verbrechen nicht straffrei bleiben können).
> Wie auch immer, so bedeutet der Stopp des EU-Haftbefehls, dass Menschen in
> Verwahrung erstmal freigelassen werden, anstatt dass bis zu einemneuen
> Gesetzentwurf erstmal nach alter Regelung verfahren wird.NEIN ! Es gab keine alte Regelung, nach der deutsche Staatsbürger an das Ausland ausgeliefert werden dürfen. Dies war niemals möglich! Erst vor kurzen, in Vorbereitung des EU-Haftbefehlsgesetzes, strich Rot-Grün diesen Schutz aus dem Grundgesetz.
> Der Stopp hat also was gutes und was schlechtes. Einerseits ist es fahlässig,
> die Leute laufen zu lassen und nicht wie gewohnt zu verfahren,Wie gesagt, "gewohnt" könnte nicht die Auslieferung Deutscher sein, denn die hat es nie gegeben. Bisherige Rechtsauffassung war es, die Täter hier zu verurteilen, nach deutschem Recht. Und wenn es wirklich ein Kapitalverbrechen war, dann ist es auch hier strafbar. Wo ist also das Problem? Wenn nun Fristen versäumt wurden, dann liegt das nicht an fehlenden Auslieferungsmöglichkeiten (die gab es für Deutsche nie!), sondern daran, daß unsere Regierung versucht hatte, den Schutz des Grundgesetzes auszuhebeln. Dem hat das BVG erst einmal einen Riegel vorgeschoben.
Übrigens, die deutschen Strafverfolgungsmöglichkeiten gehen weit, sehr weit sogar. Du hast vielleicht noch den Fall in Erinnerung, wo jemand in Australien lebte und dort eine Webseite betrieb, die den Holocaust leugnete. Als er zu Besuch in Deutschland war, wurde er deswegen, schwups, festgenommen und angeklagt. Wegen etwas, daß er außerhalb des eigentlichen Geltungsbereichs des Grundgesetzes getan hat. Denn einige Taten (Holocaust-Leugnung, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ...) können in Deutschland bestraft werden, völlig unabhängig vom Tatort.
Bei Flugzeugentführungen gilt ebenfalls, daß keine Auslieferungspflicht besteht. Gegenüber Deutschen sowieso nicht, aber auch einen Russen, der ein Flugzeug nach Deutschland entführt, braucht Deutschland nicht auszuliefern, darf es aber. Die internationalen Abkommen sehen nur vor, daß ein Entführer bestraft werden muß, und dazu haben Deutschland und die EU-Staaten genug Möglichkeiten. Wenn die Regierung nun so tut, als könne ein Verbrecher wegen der BVG-Entscheidung nicht bestraft werden, dann ist das dreist. Erstens mal ist der Mann im Sinne des Gesetzes kein Verbrecher, sondern ein Verdächtiger, der bis zu seiner Verurteilung als unschuldig zu gelten hat. Und zweitens gibt es genug Möglichkeiten, ihn hier zu bestrafen.
Nein, hier drängt sich mir der Verdacht auf, daß durch einen spektakulären Fall davon abgelenkt werden soll, daß dies auch Otto-Normalverbraucher treffen kann. Eine Liste der Taten, bei denen ausgeliefert werden muß, sofern sie im Antragsland mit mindestens einem Jahr bestraft werden können, findest Du hier:
http://www.netzeitung.de/deutschland/348903.html
Angenommen, jemand wäre es wichtig, Dich aus dem Verkehr zu ziehen: Wetten, daß er in der Liste etwas findet? Wenn hier schon jemand bestraft werden kann, der in Australien gegen deutsche Gesetze verstoßen hat, wer weiß, wie eines der neuen Länder z.B. den Punkt "Rassismus und Fremdenfeindlichkeit" auslegt? (siehe mein Beispiel mit den Benesch-Dekreten). Vielleicht machst Du intensives Bodybuildung und finanzierst die diversen Präparate, indem Du Deinen Kumpels auch welche besorgst? ("illegaler Handel mit Hormonen und Wachstumsförderern"). Warst Du mal mit jemand aus dem Ausland befreundet, die noch bei Dir lebte, als ihr Visum abgelaufen war? ("Beihilfe zu illegaler Einreise und illegalem Aufenthalt"). Und weißt Du, mit welcher Strafe das in einem der Mitgliedstaaten bedroht ist? Falls mit mindestems einem Jahr, dann wünsche ich Dir gute Reise. Kannst Du Dir eigentlich einen Dolmetscher und einen Rechtsanwalt leisten? Denn Prozeßkostenhilfe bzw. kostenlose Dolmetscher in einem Strafprozeß sind nicht in jedem Land selbstverständlich...
Nein, keine Straftat soll straffrei bleiben. Aber wir haben genug Gesetze, um all die genannten Punkte selbst zu bestrafen, dazu müssen wir keine Deutschen als Ausland ausliefern. Wenn das gekippte Gesetz in den Medien jetzt nur am Beispiel eines Terrorverdächtigen diskutiert wird und nicht auch an den anderen Punkten, dann wundere ich mich schon.
Ach ja, falls Du Dir Hoffnung machst, Du würdest dem deutschen Richter vor der Abschiebung klar machen können, daß das alles doch ganz anders war oder viel harmloser: Sorry, aber das interessiert ihn nicht, das kannst Du ja seinem Kollegen in Estland, Lettland, Litauen oder der Tschechei erzählen. Den deutschen Richter interessiert das nämlich nicht, denn der muß Dich ausliefern, wenn die Tat, die Dir vorgeworfen wird, nur mit mindestes einem Jahr Haft bedroht ist. Vielleicht wirst Du ja freigesprochen, aber erstmal wünsche ich Dir eine gute Zeit in einem ausländischen Gefängnis.
Gruß
Johannes