Re: Kabbala, Wein und Brot - Frage zur Besetzung des Tempelbergs

Geschrieben von Hubert am 18. März 2005 22:36:40:

Als Antwort auf: Re: Kabbala, Wein und Brot - Frage zur Besetzung des Tempelbergs geschrieben von Lydia am 18. März 2005 21:14:20:

Hallo Lydia,

aha, kapiert!

Ich versuch’s mal in ganz wenigen Worten zu erklären: Wenn du heute nach Israel reist, dann wirst du zu 99 Prozent auf ganz normale Menschen treffen: modern gekleidet, ohne Bart, ohne Kaftan, ohne Kippa. Und dann gibt’s da die anderen: die Ultra-Orthodoxen, die mit schwarzem Kaftan, mit Hut, Bart und Schläfenlocken herumlaufen und somit als Juden sofort erkennbar sind.

Viele glauben, daß diese Juden das uralte Judentum verkörpern, eine Art archaisches Judentum, das unverändert seit Jahrtausenden, seit den biblischen Anfängen existiert. Natürlich ist das nicht so. Diese äußerlich erkennbaren Juden sind eigentlich das Ergebnis der modernen Entwicklung des Judentums! Es gibt sie gerade mal erst etwas mehr als 200 Jahre! Diese chassidischen Juden sind das Ergebnis einer politischen und spirituellen Katastrophe, die das Judentum im 17. Jahrhundert heimgesucht hat.

Alles begann damit, daß im Jahre 1648 Bogdan Chmielnicki zum Führer der Kosaken gewählt wurde. Die Kosaken brachten im Laufe einer Revolution in Polen rund ein Viertel der polnischen Judenheit um, viele wurden als Gefangene auf den Sklavenmarkt von Konstantinopel gebracht und dort verkauft. Die Massaker des Bogdan Chmielnicki an den polnischen Juden waren so furchtbar, daß viele jüdische Gemeinden glaubten, das Ende der Zeit sei nahe. Denn in der Überlieferung heißt es, daß eine besonders schlechte Zeit der Ankunft des Messias vorausgehe. In ihrer Verzweiflung griffen die Juden nach jedem Strohhalm, der ihnen irgendwie Halt bieten konnte. Die Idee, die Ankunft des Messias stünde unmittelbar bevor, begann sich wie ein Lauffeuer in ganz Europa auszubreiten. In der jüdischen Welt machte sich ein merkwürdiger esoterischer Spiritismus breit, der alle Schichten erfaßte.

Die Sehnsucht nach dem Messias war größer denn je. Und er kam. In Gestalt des Schabbatai Zwi, eines jungen Talmudschülers, der 1626 in Smyrna ausgerechnet am 9. Av geboren wurde. Der 9. Av ist im jüdischen Kalender der Tag, an dem der Tempel zerstört wurde. Traditionell heißt es, daß der Messias an einem 9. Av geboren wird. Bei Schabbatai war das tatsächlich der Fall. Sein wichtigster Jünger und Verkünder wurde ein Mann namens Nathan von Gaza, der von sich glaubte, er wäre die Reinkarnation des Propheten Elijahu, der nach der Überlieferung die Ankunft des Messias verkünden werde. Nathan von Gaza muß ein PR-Genie gewesen sein. Denn bis 1665 hatte er die meisten jüdischen Gemeinden Europas davon überzeugt, daß Schabbatai Zwi tatsächlich der lang ersehnte Messias wäre. Nathan machte irrsinnige Prophezeiungen: Bald würden die Zwölf Stämme von allen vier Enden der Welt eingesammelt, der türkische Sultan würde entthront und die Erlösung am 18. Juni 1666 beginnen!

Die jüdische Welt war in Aufruhr und geriet in Ekstase. Ganze Gemeinden schlossen sich Schabbatai Zwi an, ließen alles stehen und liegen, um zu dem „Messias“ zu eilen. Familie verkauften ihr Hab und Gut, um dem Erlöser zu folgen, es war eine einzige, große, wahnsinnige Raserei.

Doch es kam natürlich alles ganz anders. Als Schabbatai Zwi in der Nähe der osmanischen Hauptstadt Konstantinopel seinen Fuß an Land setzte, wurde er von den Behörden prompt verhaftet. Er kam als Aufrührer vor Gericht und hatte die Wahl, zum Tode verurteilt zu werden oder zum Islam zu konvertieren. Ganz irdisch wählte der verängstigte „Messias“ die Konversion. Als Moslem starb er 1676 in Albanien.

Doch damit war das Ende des Spuks noch nicht erreicht. Werbemanager Nathan von Gaza beeilte sich, diese Konversion als Teil des göttlichen Erlösungsplanes und andauernden Kampf mit den Mächten des Bösen kundzutun. Tatsächlich gab es einige Juden, die Nathan auch diesen Quatsch abnahmen und sich ebenfalls zum Islam bekehrten, um ihrem Herrn und Meister auf allen Wegen folgen zu können. Sie wurden später Dönmeh genannt, und bis ins 20. Jahrhundert konnte man sie in Istanbul finden.

Die Dönmeh folgten dem falschen Messias in den Islam. Für die große Mehrheit der Judenheit aber war der Übertritt das Ende. Nicht nur das Ende ihrer Träume, sondern auch das Ende ihrer psychischen, religiösen und teilweise sogar physischen Existenz, sie hatten alles für ihre Hoffnung auf Erlösung aufgegeben. Die jüdischen Gemeinden Osteuropas standen spirituell vor dem Ruin. Das traditionelle Judentum jener Zeit, die talmudische Gelehrtheit ebenso wie die rabbinische Gesetzesstrenge, hatte auf ganzer Linie versagt und den jüdischen Massen nichts mehr anzubieten. Wenn das Judentum überleben wollte, so mußte es sich radikal und tiefgreifend erneuern.

Während das klassische, rabbinische Judentum sich strikt auf das rationale Studium der heiligen Schriften und der Erfüllung der rituellen Gesetze konzentrierte, hatten viele Scharlatane in der Periode Schabbatai Zwis ebenfalls ihr Unwesen getrieben. Kabbalistische Kreise, also jüdische Gruppen, die sich dem Studium der esoterischen Lehre des Judentums, der Kabbala, widmeten, hatten versucht, die seit Jahrtausenden überfällige Erlösung durch magische Riten und Beschwörungsformeln zu beschleunigen. Sie verteilen obskure Amulette und merkwürdige Spruchzettel, eine Art „Mantras“, die – so sagten sie – Heilung und vollständige Erlösung brächten. Alles Humbug, wußten die Juden am Schluß.

Kabbalisten, Messianisten, Rabbiner – sie alle erwiesen sich als Lügner, als Versager. Wie aber sollte es weitergehen?

In diesem verzweifelten politischen Klima entstand im frühen 18. Jahrhundert in Podolien, Galizien und Wolhynien der Chassidismus als eine Volksbewegung, die den Juden wieder Hoffnung und spirituelles Erlebnis ermöglichte. Israel ben Elieser, später Baal Schem Tow, der „Meister des guten Namens“, eignete sich talmudische und kabbalistische Kenntnisse an, ohne jedoch den Wissenstand zu erreichen, den die damaligen Talmudhochschulen vermittelten.

Als er 36 Jahre alt war, hatte er das Gefühl, er könnte sich offenbaren. Er kam dabei nicht einen Augenblick auf den Gedanken, er könnte der Messias sein. Es ging ihm lediglich darum, den Juden neuen Glauben an Gott zu geben, ihnen zu helfen, nach der Zeit des völligen spirituellen Zusammenbruchs, dem die Rabbiner jener Zeit hilflos zusahen, ihnen neue Hoffnung zu geben.

Bald scharten sich Schüler um ihn, um seine Lehre und seine Lebensweise kennenzulernen und zu übernehmen. Als Israel ben Elieser 1760 starb, hinterließ er eine Lehre, die sich auf Kabbala, die jüdische Mystik, beruft und heute allgemein als „Chassidismus“ bezeichnet wird.

Im Mittelpunkt des Chassidismus steht also nicht mehr nur die Gelehrsamkeit, sondern die Bindung der Seele an Gott. Das ist eine permanente Beziehung, die sich nicht nur auf Gebet oder Schriftstudium beschränkt, sondern das ganze Leben mit einbezieht. Selbst die profansten Dinge müssen mit „Dewekut“, mit einer „Bindung“ der Seele an Gott, verrichtet werden. Nur wer so lebt, ist in der Lage, die heiligen Funken emporzuheben und die „Mitzwot“, die Gesetze Gottes, in der entsprechenden spirituellen Haltung so zu vollziehen, daß jede ausgeführte „Mitzwah“ zur Erlösung der Welt beiträgt.

Um auch den einfachsten und ungebildetsten Juden an dieser Erlösungsarbeit teilhaben zu lassen, setzte der Baal Schem Tow den Gottesdienst vor das reine Schriftstudium.

Die chassidische Konzeption steht also in scharfem Gegensatz zur rabbinischen des 17. und 18. Jahrhunderts. Trotzdem nahmen viele Juden den Chassidismus begeistert auf. Die „Mitnagdim“, die Vertreter des knöchernen Gelehrtentums, gerieten bald ins Hintertreffen, nachdem sie obendrein vergeblich versucht hatten, gegen die „Chassidim“ vorzugehen. Der Chassidismus begann seinen Siegeszug und erfaßte weite Teile Osteuropas.

Es kam zwar auch für den Chassidismus die große Krise – dennoch hat er sich bis heute erhalten. Und immer wieder tauchen große Persönlichkeiten auf, wie zuletzt die des Lubawitscher Rebben in New York, Menachem Mendel Schneerson, der Anfang der neunziger Jahre verstarb. Doch sie blieben die Ausnahme.

Die Chassidim, oder besser: die Orthodoxie war in gewisser Weise auch eine Reaktion auf die Emanzipation, die durch die Aufklärung zunächst in Westeuropa den Juden bessere, freiere Lebensbedingungen gewährte. Viele Juden wandten sich von der Tradition ihrer Väter vollständig ab oder entwickelten neue Formen des jüdischen Glaubens. Erst durch das Entstehen neuer Strömungen, wie dem Reformjudentum oder dem säkularen Judentum, mußten sich die Frommen einen Namen geben: „Orthodoxe“ – und sie begannen sich in ihrer Kleidung immer deutlich von den anderen Juden zu unterscheiden, weil diese heftigst darauf erpicht waren, wie Nichtjuden auszusehen.

Übrigens ist heute die Feindschaft zwischen Mitnagdim und Chassidim größtenteils überwunden, da sie jetzt einen gemeinsamen Feind haben: die säkularen, zionistischen oder reformistischen Juden. Ein neuer gemeinsamer Feind verbündet alte Opponenten schnell.

Im Grunde lehnen die Orthodoxen den Staat Israel ab, weil dieser Staat eben nicht als das Ergebnis einer zionistischen Bewegung gegründet werden durfte, sondern erst durch den Messias zu begründen ist.

Eine latente Bedrohung aus der orthodoxen Ecke gab es eigentlich immer – allerdings halte ich eine akute Gefährdung des Tempelbergs aufgrund der Allgegenwart des Shin Bet, des Inlandsgeheimdienstes, für relativ unwahrscheinlich.

Herzlichst,
Hubert




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