Hin und wieder zurück

Geschrieben von Templar am 21. Dezember 2004 15:57:21:

Eines schönen Tages ist es soweit. Bei den einen früher, bei den anderen später. Aber irgendwann, können sie es nicht mehr ignorieren. Es läuft so vieles falsch auf dieser Welt. Sie beginnen genauer hinzusehen, sie beginnen Anzeichen zu sammeln. Und sie werden fündig. Und wie fündig sie werden. Und irgendwann müssen sie sich selber eingestehen, dass sie die Apokalypse für ziemlich wahrscheinlich halten. Es wird etwas geschehen, etwas so Gewaltiges, dass es das Ende der Welt sein muss. Mindestens der Welt so wie wir sie kennen. Kein Kabelfernsehen mehr, keine Klimaanlage, keine Geländewagen, keine Foto-Handys mehr – und eigentlich finden sie das noch nicht mal so schlecht. Eh alles nur nutzloser Tand. Man benutzt ihn, man will ihn, aber selbstverständlich kann man auch ohne.

Diese Gesellschaft ödet sie schon seit langem an, der Zynismus der Großkonzerne, die Verachtung der Leute für ihre Umwelt, für ihre Mitmenschen, für das Leben, die Ignoranz der Menschen die das Unheil einfach nicht sehen wollen oder können. Sie schwanken zwischen dem Hochgefühl der Überlegenheit und der depressiven Verstimmung der Einsamkeit. Angewidert gehen sie durch die Strassen und angesichts des auf Äußerlichkeiten getrimmten Lebens der großen Masse, könnten sie würgen. Das Schlimmste ist allerdings die Hilflosigkeit. Die Hilflosigkeit nichts verändern, nichts bewegen zu können, denn sie sind allein.

Irgendwann fällt ihnen ein Buch in die Hände. Nein, sie sind nicht allein, auch andere haben es erkannt, schon viel viel früher sogar. Es gibt Prophezeiungen, Vorhersagen und sie sehen ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Mehr noch, es kommt noch viel schlimmer, die Szenarien sind wahrlich apokalyptisch. Es folgen mehr Bücher, mehr Prophezeiungen, das wohlige Grauen das sie beim lesen jeweils überfällt, wirkt schon fast wie eine Droge. Jede Nachricht, jede Tagesschau vervollständigt das Bild. Und dieses Bild ist selbstverständlich grauenvoll. Es gibt keinen Zweifel mehr, das Ende ist nahe. Und wenn nicht nahe, dann doch auf dem Weg...mit Riesenschritten auf dem Weg.

Angesichts der Fülle von Prophezeiungen können sie sich lange nicht entscheiden, welches der Szenarien ihnen denn nun das liebste ist. Das hängt natürlich auch von ihrer Disposition ab. Der grösstmögliche GAU kann in der Errichtung einer Weltreligion liegen, im prophezeiten Einmarsch der Russen, in der Klimaerwärmung, in der Dimensionsverschiebung, in einer Hungerkatastrophe, einem Meteoriteneinschlag, der Rückkehr des Messias der falschen Seite, einem Bürgerkrieg, einer neuen Partei... der Möglichkeiten sind gar so viele. Es ist zum Verzweifeln.

Und doch. Das Leben muss irgendwie weitergehen. Die Katastrophen lassen noch ein wenig auf sich warten, die Arbeit muss getan, Frau und Kinder irgendwie auch noch beachtet werden...


Ohne Begeisterung machen sie also weiter, denn eigentlich ist eh alles umsonst. Einige verfallen in den totalen Fatalismus – nach mir die Sintflut. Wieder andere raffen sich auf, versuchen sich so gut es geht vorzubereiten, mit noch mehr Prophezeiungen, mit Bibelstudium, mit Survival-Kursen, mit Notvorräten, mit Auswanderungsplänen (immerhin, irgendeine Insel auf den Aleuten wird nirgends erwähnt, da kann man vielleicht überleben). Und als sie da so vor sich hin leben, da stoßen sie dann in irgendeinem Prophezeiungsbuch auf die nächste Stufe. Es ist ja alles noch viel Schimmer.

Nicht nur ist die Menschheit komplett bescheuert, nein sie werden gelenkt! Sie werden dazu gemacht, da sind finstere Mächte am Werk, die sich das ganz genauso ausgedacht haben. Und mit Schaudern sind unsere Apokalyptiker bei den Verschwörungstheorien angekommen. Es ist ja so furchtbar, aber das es so schlimm ist hätten sie in ihren schlimmsten Träumen nicht gedacht. Illuminaten, Freimaurer, Opus Dei, Reptiloiden, Satanisten – die Menscheit ist gefangen. Ein Alptraum. Und je mehr er liest –und er liest mal wieder viel-, desto grausamer wird es. Freier Wille? Ein Witz? Lächerliche kleine Figürchen in einem bösen Spiel unglaublich mächtiger Kräfte. Wozu noch Vorbereitungen? Wozu noch auswandern? Welch Hohn, egal wohin sie flüchten, „die“ sind immer schon da, sehen alles, kontrollieren alles und lachen sich kaputt. Der vom Apokalyptiker zum Verschwörungstheoretiker gewordene Mensch fühlt sich wieder ganz furchtbar allein, er hat Angst, er ist wütend, er wünscht sich er hätte nie hinter die Kulissen geblickt.

Manche werden ein wenig paranoid, andere verzweifeln ob all der Hoffnungslosigkeit, Verbitterung macht sich breit, Zynismus verschafft ein wenig Erleichterung. Einige wollen und können das so nicht stehen lassen. Sie denken nach. Lange. Sie wägen ab. Noch länger. Irgendwann kommt ihnen ein faszinierender Gedanke. Was wäre, wenn man das alles mal von einem ganz anderen Standpunkt anzusehen hätte? Ein Funken blitzt auf. Ganz kurz nur. Doch ihr apokalyptisches Fundament erhält Risse. Sie blättern zurück. Irgendwo stand doch mal was von der anderen Welt, der anderen Seite, von anderen Gesetzen. Sie hatten es glatt übersehen. Neue Bücher. Die Rettung. Es geht weiter. Ein neues Universum tut sich auf. Eine fremde Welt breitet sich aus. Es gibt tatsächlich einen Plan, eine Gesetzmässigkeit, aber ganz anders als sie dachten. Da sind andere Ebenen, andere Wesenheiten, da schimmert Licht und so ein sonderbares Empfinden durch.

Also sind sie doch nicht alleine. Nein, sie sind nicht getrennt, aber sie wissen so wenig. Verwirrung hält erst Einzug, Unglauben, dann Begeisterung. Es ist ja alles ganz anders. So wunderbar. Man braucht keine Angst zu haben, es ist für alles gesorgt. Erleichtert fallen sie in sich selbst zurück. Zufriedenheit macht sich breit. Endlich. Ein wenig meditieren, ein bisschen affirmieren, sich mit diesen angenehmen Energien verbinden – es ist ja alles so herrlich. Endlich von der Verantwortung befreit, alles ist in Ordnung und geht seinen gerechten Gang. Wie unangenehm nur, dass deswegen die Anforderungen des Alltags nicht wirklich leichter werden, der Nachbar immer noch nervt und auch die blühenden Landschaften auf sich warten lassen. Das ist frustrierend. Irgendetwas läuft falsch.

Und dann ist da mit einem Male dieser Moment. Nichts funktioniert mehr. Weder das eine noch das andere. Da steht Mensch nun - und es ward finster.
Eine Ahnung keimt auf. Sie gefällt nicht. Wird verworfen, zurückgestellt, verleugnet. Man hat doch soviel gelernt, man weiß doch soviel, das muss doch zu irgendetwas gut sein. Man versucht es noch mal. Man hat es doch im Griff, man weiß doch wie es geht. Aber irgendwie funktioniert das alles nicht. Scheitern wohin man blickt. Man erinnert sich an diesen unscheinbaren, unspektakulären Keim. Was war das noch mal? Und wo war es? Das Ent-decken bereitet kein wirkliches Hochgefühl, eher nachhaltige Ernüchterung. Selbstverantwortung – nein, bitte nicht!

Da ist man nun und sinnt lange, lange nach über die Selbstverantwortung. Man will sie nicht, man liebt sie nicht, aber sie ergibt so verdammt viel Sinn.

Verstehen hält Einzug. Und wenn Seher und Propheten einfach nur Möglichkeiten gesehen hätten? Wenn diese vorhergesagten Schlachtfelder unsere eigene Psyche wären? Wenn sie das alles gesehen hätten, nur damit sich die Menschheit und jeder Einzelne anders entscheiden kann? Kaum zu glauben, aber man lebt nicht einfach in einem gegebenen Rahmen, man erschafft sich diesen auch noch selber. Es braucht keine Verschwörung dazu, Leid und Unheil anzurichten. Kein Repto mit Strahlenkanone zwang Serben und Bosnier dazu, sich gegenseitig abzuschlachten. Kein Illuminat sorgt dafür, dass Menschen verhungern. Es sind keine Freimaurer die Schlachthäuser betreiben und die Meere leer fischen. Es braucht keinen Satanisten dazu sich in Hightech-Laboren besonders effiziente Massenvernichtungswaffen auszudenken. Nein, dass schaffen wir Menschen alles von ganz alleine – und sogar ziemlich locker.

Der Kreis hat sich geschlossen. Die Menschheit ist einfach nur bescheuert selbstzerstörerisch und so unglaublich selbstgefällig, dass die Tatsache allein, dass sie immer noch existiert schon dafür spricht, dass es einen Gott, eine intelligentere Organisation geben muss.

Und doch, man ist nicht getrennt von ihr. Man ist Teil dieser Menschheit, so ungern man es auch zugeben muss. Also hat man immerhin doch eine Möglichkeit das Ganze zu beeinflussen, denn wenn man nicht getrennt ist dann kann man auch das Kollektiv beeinflussen. Und so ergibt ein alter Spruch, entkleidet jeglichen fundamentalreligiösen Tands, auch wieder Sinn: Liebe Gott den Herrn und deinen Nächsten wie dich selbst. Eigentlich wäre es ja ganz einfach.

Templar


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