Was wirklich im Kalachakra steht
Geschrieben von Micha aus dem Süden am 06. Dezember 2004 20:44:09:
Als Antwort auf: Buddhisten und Shambhala-Schlacht - Prophezeiung geschrieben von Astro am 06. Dezember 2004 19:35:53:
Gruezi mittenand,
seit einer Weile kursieren Schauergeschichten über das Kalachakra-Tantra im Westen. Quelle sind drei ehemalige Schüler des Dalai Lama, denen er wohl nicht den Gefallen tat, ihnen nach ein paar Jahren Aufenthalt in seiner Nähe die Turbo-Erleuchtung zu bescheinigen. Es handelt sich um ein Paar und ein ehemaligen Mönch. Das Paar hat ein fürchterliches Buch geschrieben, der Single zieht durch die Vortragssäle und bindet den Leuten abenteuerliche Geschichten auf.
Zur Sache:
Kein buddhistisches Tantra empfiehlt Sex mit 12jährigen. Im Gegenteil, was Buddha über Sex sagte, klang vor 2.500 Jahren revolutionär, für uns aber ziemlich vertraut: im Grunde hält sich die buddhistische Lehre aus dem Schlafzimmer raus und schreibt nicht vor, wer mit wem wann ins Bett darf, muss oder soll. Sex soll alle Beteiligten froh machen, sonst nix. Empfohlen wird, sich an die Gepflogenheiten der jeweiligen Kultur zu halten, keine Paare auseinanderzubringen - und explizit kein Sex mit Blutsverwandten und mit Minderjährigen (wörtlich: Personen, die unter dem Schutz von Vater und Mutter stehen).
1500 Jahre später wurden bei uns in Europa 12jährige übrigens immer noch zwangsverheiratet und sicher wurden eheliche Pflichten eingefordert.Zurück zu Buddha: tatsächlich gibt es im buddhistischen Tantra auch Praktiken der Meditation auf sexuelle Erregung mit dem Ziel, mit Hilfe dieser starken Kraft den Geist zu zähmen. Im Unterschied zu hinduistischem Tantra (das im Westen als enstelltes Kaffesatz-Tantra inwischen schon fast an Volkshochschule auf dem Land angeboten wird) werden diese Praktiken aber nur den Praktzierenden gelehrt, die sich dafür qualifiziert zeigen. Westler waren nach einhelliger Aussage der vier großen Schulen des tibetischen Buddhismus bislang nicht darunter, und auch die Zahl der asiatischen Yogis, die das praktzieren, dürfte sehr überschaubar sein.
Die Texte mit den Belehrungen dazu sind verschlüsselt, und wer den verschlüsselten Text mit einem tibetischen Wörterbuch übersetzt, kriegt halt ziemlich abenteuerlichen Schnee dabei raus. So schreiben die drei Super-Erleuchteten von Sex mit Vater, Mutter, Schwester und Tochter....
Im Kalachakra-Tantra gibt es tatsächlich Hinweise auf eine globale Auseiandersetzung der "zivilisierten Menschheit" mit "Barbaren", gemeint sind Moslems. Aus buddhistischer sicht fielen die Moslems um achthunderthirschenpirsch und dann nochmal um elfhundertirgendwas wie die Barbaren über Nordindien her, schlachteten alles ab, was nicht an ihren Gott glauben wollte, verbrannten Klöster und Bibliotheken. Sie löschten den Buddhismus in Indien, Kashmir, Persien und Afghanistan tatsächlich aus. In diesen Prophezeiungen wird auch beschrieben, dass Buddhisten unter Führung eines buddhistischen "Königs" auf der Seite der Zivilisierten kämpfen und mithelfen, den globalen Angriff der Barbaren zu zurückzuschlagen. danach ist dann eine weile Frieden und Glück.
Hauptthema des Kalachakra-Tantra sind aber Erklärungen darüber, wie aus geistigen Energien die verschiedenen Ebenen unserer Erfahrung entstehen - von den materiellen Elementen über Organe und Körper, Planeten, Universen bis zu Emotionen und Weisheiten. Spannd, das alles, leider gibt es sehr selten qualifizierte belehrungen dazu.
So - weißgewaschen ist Buddhismus damit auch wieder nicht. Die Skandale sind aber viel "irdischer": es handelt sich um sexuelle Ausbeutung von (erwachsenen) SchülerInnen durch buddhistische Lehrer (kommt immer mal wieder vor), um Alkoholexzesse entgleister Lehrer, um abgedrehte Spinner wie Shoko Ashara (U-Bahn-Terrorist in Japan). Dennoch ist der Buddhismus für seine Größe eine sehr unproblematische Religion. denn das wichtigste Prinzip ist nicht der richtige Gott oder das eine wahre Buch, sondern die freie, offene Weite des Geistes. Die lässt sich nicht so leicht missbrauchen, wie Götter und Bücher. Außerdem sieht man Buddhismus nicht als alleinseligmachende Religion - aus buddhistischer Sicht sind verschiedene Religionen eben verschiedene Wege für verschiedene Menschen. verschiedene Köpfe brauchen verschiedene Hüte - Buddhismus passt nicht für jeden.
Wo die religiöse Toleranz endet, das ist da wor Menschen aus religiösen Gründen unterdrückt oder umgebracht werden. Womit wir wieder aktuell beim Thema Islam sind (und vor 1000 jahren beim Thema Christentum gewesen wären).Grüße von Micha, der vier Jahre an einer tibetischen Kloster-Uni verbracht und dort SEHR viel fürs Leben gelernt hat.