Re: Versuch einer ersten Analyse

Geschrieben von Swissman am 09. Oktober 2004 00:06:37:

Als Antwort auf: Re: Versuch einer ersten Analyse geschrieben von Dunkelelbin am 08. Oktober 2004 11:40:07:

Hallo Dunkelelbin,

>Vor wenigen Stunden wurde erstmals von einer neuen, bislang nicht in Erscheinung getretenen ägyptischen Bruderschaft berichtet, die angeblich die Verantwortung für die Attentate übernommen hat.

Die erste Gruppierung, die sich zu den Anschlägen bekannt hat, nennt sich Gama'a al Islamiya al Alamiya (=Internationale Islamische Gruppe). Es fällt dabei auf, dass hier lediglich der Name der bereits bekannten Gama'a al Islamiya um das Adjektiv "international" ("al Alamiya") ergänzt worden ist. - Ich gehe davon aus, dass die beiden Gruppierungen identisch sind, und durch den Namenswechsel die Zugehörigkeit zum Al-Kaida-Netzwerk stärker betont werden soll.

Ein Namenswechsel drängte sich ohnehin auf, weil letztes Jahr ein Teil der inhaftierten Gama'a-al-Islamiya-Kader offiziell bekanntgegeben hat, dass sie ihre frühere Unterstützung terroristischer Aktionen nunmehr als Fehler und Sünde betrachteten. Zur theologischen Untermauerung ihres Kurswechsels haben sie zudem ein Buch veröffentlicht. - Gleichzeitig nahmen sie für sich in Anspruch, weiterhin für Gama'a al Islamiya zu sprechen: Ayman al-Zawahiri und seine Entourage ist nach dieser Lesart ein Renegat, der seine eigene Bewegung verraten habe. Schon um Missverständnisse in der Öffentlichkeit gar nicht erst aufkommen zu lassen, bot es sich an, den "Firmennamen" leicht anzupassen.

>Mich irritiert ein wenig, dass sich die Berichterstattung scheinbar nur auf israelische Opfer bezieht.
>In Ägypten ist gestern ein Feiertag gewesen, viele Ägypter verbringen dieses v v verlängerte Wochenende ebenfalls am Roten Meer - ebenso wie Deutsche, Russen, Engländer. Es ist unwahrscheinlich, dass diese Anschläge ausschließlich Israelis getroffen haben sollen.

Ich denke, dies liegt v. a. daran, dass Israel innert relativ kurzer Zeit mit eigenen Rettungskräften vor Ort präsent war. - Aus israelischer Optik liegt natürlich der Fokus der Berichterstattung auf eigenen Staatsangehörigen. Und zumindest anfänglich mussten nichtisraelische Medien, mangels eigenen Berichterstattern am Ort des Geschehens, ihre Informationen aus israelischen und ägyptischen Berichten herausdestillieren , wobei die ägyptischen (Staats)medien aus naheliegenden Gründen daran interessiert sein müssen, das Ausmass der Anschläge nach Möglichkeit eher herunterzuspielen, um den Schaden für den Tourismus zu begrenzen.

Auf der Hand liegt, dass es bei einem Anschlag auf ein ägyptisches Hotel zwnagsläufig auch unter dem einheimischen Personal Opfer geben muss.

Ich denke allerdings, dass aufgrund des jüdischen Laubhüttenfestes und der geographischen Nähe der Tatorte zu Israel tatsächlich überwiegend israelische Gäste in den Hotels logierten. - Dies wiederum mag auf viele potentielle ägyptische Gäste eher abschreckend wirken. Man könnte ansonsten seine eigenen, liebgewordenen Vorurteile gefährden...

Übrigens: Im Zusammenhang mit dem Anschlag auf Bali wird in den Medien für gewöhnlich die Zahl von gut 200 Todesopfern herumgereicht. - Dies stimmt so aber gar nicht: In dieser Zahl sind ausschliesslich die getöteten Touristen enthalten. Tatsächlich sind aber zusätzlich nochmals etwa gleichviele Einheimische umgekommen.

>Es irritiert mich, dass diese Anschläge in Ägypten durchgeführt wurden. Die ägyptische Regierung ist bekannt dafür, dass sie mit harter Hand gegen jede Form des Islamismus vorgeht und mit Attentätern kurzen Prozeß macht.
>Das Land existiert faktisch nur noch durch den Tourismus rund ums Rote Meer. Kommen keine Touristen mehr, trifft das hauptsächlich die einheimische Bevölkerung.

Genau deswegen: Einerseits, um zu demonstrieren, das auch noch so grosse Sicherheitsmassnahmen einen Selbstmordattentäter nicht aufhalten können, und dass der islamistische Untergrund trotz des harten Durchgreifens der Regierung nach wie vor handlungsfähig ist. Andererseits schädigt jeder Schlag gegen den Tourismus indirekt auch die Regierung: Wenn weniger Touristen kommen, kollabiert die Wirtschaft, wodurch auch die Staatseinnahmen und das für repressive Massnahmen zur Verfügung stehende Geld sinken.

Zudem steigt dadurch die Anzahl (unzufriedener) Arbeitsloser, was die Leute eher geneigt macht, auf die Einflüsterungen radikaler Elemente ("die Regierung, die Amerikaner, die Juden, etc. sind schuld an deiner Lage") zu hören.

>Dann kommt es zu einer innerpolitischen Krise in deren Folge vielleicht die derzeitigen Machthaber, und das sind neben Mubarak vor allem Hotelbetreiber und Investitoren, gestürzt werden und das Land, wie von vielen Beobachtern befürchtet, in den Islamismus gerissen wird.

Genau dies dürfte die strategische Überlegung der ägyptischen Islamisten sein. - Übrigens hält auch Peter Scholl-Latour eine solche Entwicklung für nicht vollkommen ausgeschlossen: Seiner Meinung nach hätte ein Scheitern der Amerikaner im Irak die wahrscheinliche Folge, dass es wohl in zumindest einem der folgenden Staaten, die er als Wackelkandidaten einschätzt, zu einem islamistischen Umsturz kommen würde: Saudi Arabien, Jordanien und Ägypten.

>Was das für die Region bedeuten würde, brauche ich nicht zu erklären.

Ägypten hat nach wie vor die stärkste Armee im arabischen Raum: Solange Ägypten abseits steht, ist ein offener Krieg der arabischen Staaten gegen Israel faktisch unmöglich. - Wenn aber in Kairo die Kriegspartei ans Ruder kommt, werden die Karten neu gemischt.

Eher gering sind die (direkten!) Implikationen auf den Erdölsektor: Die meisten Öltanker sind für den Suezkanal zu gross und müssen ohnehin das Kap der Guten Hoffnung umfahren (die indirekten Auswirkungen wären jedoch durchaus erheblich). Der Kanal ist vor allem für den Transport von Gütern von und nach Fernost, sowie für die schnelle Verlegung von Flotteneinheiten zwischen Mittelmeer und Persischem Golf/Arabischem Meer, von eminenter Bedeutung. Als Erdölexporteur tritt Ägypten ohnehin nicht auf.

Nicht zuletzt wäre ein wahhabitisch beherrschtes Ägypten in der Lage, den saudischen Untergrund über das Rote Meer mit Kriegsmaterial und Personal zu versorgen, wodurch ein möglicher Machtwechsel in Riad entscheidend erleichtert würde...

mfG,

Swissman


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