Re: An sich ja stimmig aber...

Geschrieben von Kiaril am 29. Juli 2004 11:17:20:

Als Antwort auf: Re: An sich ja stimmig aber... geschrieben von Optimist am 29. Juli 2004 08:45:47:

Hi Optimist,


Klar! Eine intakte Dorfgemeinschaft, oder ein zusammenarbeitendes Stadtviertel sind Idealzustände.

Allerdings komme ich aus einem kleinen Weindorf und kann dir aus Erfahrung sagen, daß die Vorstellung eines intakten Dorflebens eher ein Wunschdenken ist.

Es heißt zwar, daß Not zusammenschweißt, aber man sollte ruhig auch die Schattenseiten seiner Pappenheimer kennen.

Mein Vater kann dir dazu eine ganze Operette singen.

Mein Großvater fiel im Rußlandfeldzug und hinterließ einen stark verschuldeten Kleinbauernhof, sowie eine Frau mit drei Kindern. Von wegen dörflicher Zusammenhalt in Zeiten der Not!! Einzig zwei morgen Feld, sowie ein 1500 m² großer Garten bewahrten die Familie vor dem Hunger. Ja, damit konnte sie sogar ihre 17000 DM Schulden (1950 ein SCHWEINEGELD) peu a peu (im Laufe von Jahrzehnten) zurückzahlen.

Aber die Schikanen! Unglaublich was sich die lieben Dorfmitbewohner alles leisteten. Die meisten Familien waren rel. wohlhabende Bauern. Tja, dagegen war diese Bachfamilie (die lebten damals direkt am Ufer eines kleinen Flüßchens) richtig asoziales Gesocks. Einen schützenden Vater hatte diese Familie nicht mehr... während die größeren Bauern und deren Söhne vom Kriegsdienst ausgeschlossen blieben. Immerhin waren die ja für die Nahrungsversorgung in der Heimat unabdingbar.
Es würde ein Buch füllen, wenn man all die Schikanen anführen würde.
Lehrer und Pfarrer hat mein Daddy neben den immerseits jammernden Bauern seither gefressen.

Nur zwei kurze Anekdoten um dir ein ganz grobes Bild zu umreissen:

1) Knüppelgasse
Der Morgentliche Gang zur Dorfschule betrug Luftlinie ca. 300 Meter und dauerte für meinen Vater ca. 1 Stunde!! Den direkten Weg konnte er nicht nehmen, da sich viele anwohnende Jugendliche einen bitterbösen Spaß daraus machten die Kinder vaterloser Familien aufzulauern und windelweich zu prügeln. Also mußten zahlreiche "strategische" Umwege gemacht werden.
Von den "Erwachsenen" hat keiner eingegriffen!

2) Arbeiten für ein Ei
Entlohnung für ein Kind, daß einen halben Tag damit verbrachte bei einem Großbauern ein Scheunentor zu streichen: Ein Hühnerei!!
Unverschämt? Aber hallo, nur was sollte eine Witwe gegen sowas unternehmen?

Einzelfall? Mit Sicherheit nicht! In den anderen Dörfern ging es ähnlich zu. Die größe des Landbesitzes bestimmte die Macht.
Es bleibt nachzutragen, daß dann auch noch viel schlimmeres im Dunkelkämmerchen passierte. Ich möchte nicht wissen, wieviele Witwen sich für Nahrung und einen gewissen Schutz heimlich bei dieser Herrschaften prostituieren mußten. Nur als dann peu a peu die mental gebrochenen Kriegsgefangenen aus dem Osten zurückkamen (Adenauer hatte da mit Stalin einen Deal ausgehandelt, die nicht zu schnell zurückkehren zu lassen, so wurde und wird gemunkelt), gab es dann doch wohl Konsequenzen. Es gab daraufhin ne Zeit, wo man Großbauern baumelnd am Eingang ihrer Türschwelle fand. Kam natürlich nie groß in irgend eine Zeitung. Das war die berühmte Zeit des Schweigens, wo keiner irgendwas wußte...
Die amfensterhintergardienengucker, schnüffler, Denunzianten aus Zeitvertreib sind aber nach wie vor geblieben.

Also: Immer schön optimistisch bleiben und hoffen, daß man bessere Nachbarn hat.
Nee, nee! Da verlasse ich mich doch lieber zuallerest auf mich.


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