Kapitalismus, Marktwirtschaft, Modernisierung und Massenarmut
Geschrieben von zSz am 04. Januar 2002 08:59:03:
Als Antwort auf: wirtschaftliches Streitgespräch aus / www.politikforum.de geschrieben von Sickastar am 04. Januar 2002 02:25:06:
Menschen, die ohne Geld unter dem Diktat der kapitalistischen "Selbstverantwortung" leben müssen, sind jeder Selbstbestimmung über das eigene Leben beraubt.
Der letzte klägliche Rest eines dumpfen Geschichtsbewußtseins, den die Marktwirtschaft übriggelassen hat, ist ihre eigene Legende: daß sie nämlich grundsätzlich "wohlfahrtssteigernd" sei. Demnach hätte die Menschheit vor der marktwirtschaftlichen Modernisierung im Elend verschmachten müssen. In Wirklichkeit verhält es sich für die große Mehrheit der Weltbevölkerung genau umgekehrt. Zwar hat der Kapitalismus zweifellos die Produktivkräfte verwissenschaftlicht und ihre Entwicklung ungeheuer beschleunigt. Die Steigerung der Wohlfahrt war damit jedoch merkwürdigerweise immer nur zeitweilig verbunden, begrenzt auf bestimmte soziale Segmente und Weltregionen. Denn der Kapitalismus ist ein brutales Gewinner-Verlierer-Spiel, dessen totalitärer Charakter die pure soziale und selbst die physische Existenz als Einsatz nicht ausspart; und er hat von Anfang an mehr Verlierer als Gewinner hervorgebracht.
Die Gesamtbilanz ist nicht nur negativ, sondern verheerend. Der Wirtschaftshistoriker Immanuel Wallerstein und sein Team am Fernand Braudel Center for the Study of Economics der State University in New York haben aus ihren Untersuchungen Ende der 70er Jahre den Schluß gezogen: "Langfristig sinkt der Wohlstand des Weltsystems und der Gesamtheit der Arbeitskräfte der Erde - entgegen einer sehr verbreiteten Annahme steigt er nicht" (Hopkins/Wallerstein 1979, 184 f.). Das mag dem vielseitig konsumierenden westmitteleuropäischen "Fußgängerzonen-Menschen" (Diedrich Diederichsen) heute immer noch überraschend und unglaubwürdig vorkommen, obwohl er sich selber schon längst wieder auf dem absteigenden Ast des Lebensstandards befindet. Aber "Gesamtbilanz" heißt eben, daß erstens nicht nur die jüngste Vergangenheit der Nachkriegsgeschichte mit ihren zeitweilig hohen Konsum-Gratifikationen, sondern die Modernisierungsgeschichte insgesamt mit dem Leben all ihrer Generationen berücksichtigt werden muß.Die Kosten, der vom globalen Marktsystem verursachten ökologischen Zerstörung entweder gar nicht berücksichtigt oder sie gehen sogar als positive Größen in das Bruttosozialprodukt ein; etwa wenn die Kosten von Verkehrsunfällen und ihren Folgen, von Boden- und Wasserverseuchung, Luftverschmutzung usw. (ebenso wie übrigens die kapitalistische Armutsverwaltung) als "Einkommen" erscheint. Ein nicht unerheblicher Teil der kapitalistischen Menschheit verdient seinen Lebensunterhalt mit den Schäden, die das System anrichtet. Ganz zu schweigen davon, daß die Gefräßigkeit der Marktwirtschaft im Verlauf ihrer Geschichte jeden freien, unentgeltlichen Zugang der Menschen zu den Naturreichtümern abgeschnitten und durch die "Privatisierung der Welt" die gesamte menschliche Naturbeziehung den Zwängen des Kaufens und Verkaufens untergeordnet hat.
Es hat die Züge eines verrückten Märchens, in dem das Absurde normal und das Selbstverständliche ganz unverständlich erscheint, daß das, was offen auf der Hand liegt und eigentlich gar nicht erwähnt zu werden braucht, im gesellschaftlichen Bewußtsein vollständig verdrängt worden ist, als wäre darüber ein Zauberbann ausgesprochen worden. Trotz der geradezu schreiend evidenten Tatsache, daß ein auch nur einigermaßen sinnvoller Einsatz der gemeinsamen Ressourcen mit der kapitalistischen Form völlig unvereinbar geworden ist, werden nur noch "Konzepte" und Vorgehensweisen diskutiert, die genau diese Form voraussetzen.
Der gesamte Betrieb von abstrakter "Arbeit", betriebswirtschaftlicher Rationalität, Wachstumszwang und Marktwirtschaft, die gesellschaftliche Reproduktion über "Arbeitsmärkte" unter dem leitenden Selbstzweck des Geldkapitals und seiner "Verwertung" - dieser unhaltbar gewordene ganze Systemzusammenhang kann nur noch stillgelegt werden. Es bedarf eines weltweiten sozialökonomischen "Maschinensturms" gegen die in Wahrheit grauenhaft häßliche Weltmaschine des Kapitals, um sie zum Stehen zu bringen und zu verschrotten, bevor sie vollends in die Luft fliegt und die Reste menschlicher Zivilisation mit sich ins Verderben reißt.
Die Aufgabe gleicht derjenigen eines abergläubischen "Wilden" (und der wahre "Wilde" ist der kapitalistisch domestizierte, moderne Mensch), der sein Leben nur retten kann, wenn er ein tiefsitzendes, völlig unsinniges Tabu bricht. Dieses Tabu ist der geheiligte Dreischritt von abstrakter "Arbeit" (Warenproduktion für anonyme Märkte), Geldeinkommen und Warenkonsum gemäß "Kaufkraft". Der gordische Knoten des "Geldrätsels" kann nicht aufgeknotet, sondern nur gewissermaßen mit dem Schwert durchschlagen werden. Von diesem Tabubruch ist natürlich weit und breit nichts zu sehen. Wie die Menschen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts oft lieber verhungerten, als sich unter das Diktat der Geldmaschine zu beugen, so verhungert anscheinend heute das domestizierte Menschenmaterial dieser Maschine lieber, als daß es seine eingedrillte fetischhafte Geldsubjektivität abschüttelt. Die Kritik des als Kapital zum Selbstzweck gewordenen Geldes, dieses blendenden Scheins gesellschaftlicher Paranoia, ist dennoch in der Krise als Gespenst anwesend.Es ist fast müßig, sich die Frage zu stellen, auf welche Weise eine neue radikale Kapitalismuskritik jenseits von Markt und Staat als emanzipatorische Antimoderne zur gesellschaftlichen Massenbewegung werden kann. Denn das ist eine Frage, die nur durch die Tat zu entscheiden ist. Voraussetzung dafür ist einerseits die theoretische Innovation, die zur Kritik der grundlegenden kapitalistischen Gesellschaftsformen vordringt, statt sich wie bisher "in" diesen Formen auszudrücken. Andererseits bedarf es des regelrechten Aufstands, der Rebellion gegen die kapitalistische Krisenverwaltung jeglicher Couleur mit ihrer trostlosen Perspektive von demokratischer Zwangsarbeit und Billiglohn-Sklaverei. Die Parole "Niemals Billiglohn!" kann vielleicht endlich umschlagen in die Parole "Nieder mit dem Lohnsystem!" und Elemente einer gesellschaftlichen Gegenbewegung jenseits der abgewirtschafteten demokratischen Politik hervorbringen. Der kürzeste Weg in den sozialen Erschütterungen der kommenden Jahre wäre die Besetzung der Produktionsbetriebe, Verwaltungsinstitutionen und sozialen Einrichtungen durch eine Massenbewegung, die sich die gesellschaftlichen Potenzen direkt aneignet und die gesamte Reproduktion in eigener Regie betreibt, also die bislang herrschenden "vertikalen" Institutionen schlicht entmachtet und abschafft. Denkbar wäre auch eine Übergangsphase, in der sich eine Art Gegengesellschaft bildet, die bestimmte soziale Räume gegen die kapitalistische Logik eröffnet, aus denen Markt und Staat vertrieben werden.
Am wahrscheinlichsten ist es gegenwärtig allerdings, daß die Zukunftsmusik wirklich ausgespielt hat, weil der "Bewußtseinssprung" nicht mehr vollzogen wird, der für eine neue soziale Emanzipationsbewegung erforderlich wäre. Der Kapitalismus kann dennoch nicht weiterleben, weil seine innere Schranke ebenso blind objektiviert ist wie der Funktionsmechanismus der "schönen Maschine", der an sich selbst zuschanden wird. Bleibt die radikale Gegenbewegung aus, ist das Resultat die unaufhaltsame Entzivilisierung der Welt, wie sie jetzt schon überall sichtbar wird.Schwarzbuch Kapitalismus : ein Abgesang auf die Marktwirtschaft /
Robert Kurz. - Frankfurt am Main : Eichborn, 1999
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