Re: Überlegenheit

Geschrieben von Bonnie am 05. April 2004 22:17:21:

Als Antwort auf: Re: Überlegenheit geschrieben von Tawa am 05. April 2004 12:43:04:

Hallo Tawa, zum Einlesen in die Thematik einfach mal ein Text, den ich jetzt auf der Suche nach Texten zum "Helfersyndrom" gefunden habe:

Gefahren der Nächstenliebe
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Es gibt Menschen,

vor allem Frauen, die sich in besonderer Weise berufen fühlen, anderen zu helfen. Sie sind sensibel für die Not der Nächsten, lassen sich davon berühren und bemühen sich, die Not zu lindern. Sie stehen anderen bei, wenn sie Leid, Schmerz oder Konflikte durchstehen müssen, und vermitteln ihnen das Gefühl, daß jemand für sie da ist und sie annimmt.

Menschen,
die ihre Identität in erster Linie darin finden, anderen zu helfen, sind auf den ersten Blick sympathisch, weil sie gewissermaßen die christliche Nächstenliebe verkörpern.


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Ohne die vielen Freiwilligen
und oft schlecht bezahlten HelferInnen würde unser soziales Netz zusammenbrechen und diese Welt, die von Egoismus und Materialismus regiert wird, wäre ein großes Stück ärmer.

Trotzdem birgt die Rolle
der Helferin und des Helfers auch Gefahren und Schattenseiten, die meist erst auf den zweiten oder dritten Blick sichtbar werden. Nur wenige Menschen sind wirklich selbstloser Hilfe fähig. Wenn jemand einen helfenden Beruf ergreift oder eine HelferInnenrolle übernimmt, steht dahinter in der Regel ein ganzes Bündel von Motiven. Es ist wichtig, daß sich Menschen, die gern helfen, immer wieder über diese Motive klar werden.
Sonst kann es im schlimmsten Fall passieren, daß sie hilfsbedürftige Menschen zu Objekten ihrer Begierde, gebraucht zu werden, machen. Das Gebrauchtwerden ist dann zu einer Sucht entartet, die genauso gefährlich und schwer zu heilen ist wie jede andere Sucht. Es gibt Menschen, die ihren Lebenssinn verlieren, wenn sie nicht "für andere" da sein können, so daß andere für sie nur Mittel sind, die eigene Identität und das eigene Selbstwertgefühl zu stabilisieren.


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Menschen,
die unter dem Zwang stehen zu helfen, brauchen Übertrieben viel Bestätigung. Vielleicht hat man ihnen schon in der Kindheit vermittelt: "Du bist etwas wert, wenn Du selbstlos für andere da bist und nicht danach fragst, was Dir guttut." Diese Stimme hat sich tief in sie eingegraben und bestimmt noch heute ihr Tun. Vielleicht mußten sie schon früh die emotionalen Bedürfnisse ihrer Geschwister oder Eltern stillen, während ihre eigenen Bedürfnisse zu kurz kamen.
Vielleicht mußten sie sich nützlich machen, um überhaupt bemerkt und geliebt zu werden. "Ich werde geliebt, wenn ich hilfsbereit, verständnisvoll und bedürfnislos bin" - diese Botschaft tragen sie in sich. Mit der Zeit haben sie ihre gesamte Identität darauf aufgebaut, von anderen gebraucht zu werden, und haben es verlernt, eigene Bedürfnisse überhaupt wahrzunehmen. Sie leben vom Dank und von der Abhängigkeit anderer. Der Dank bleibt aber oft aus.

Schmidbauer
hat für diesen Menschentypus den Begriff "Helfer-Syndrom" geprägt. Diese HelferInnen sind die WohltäterInnen der Gesellschaft. Das ist ihre Gabe und ihre Gefährdung. Sie können leicht dem Stolz verfallen, daß alle anderen sie brauchen und daß sie unersetzbar sind. Auf diese Weise machen sie andere von sich abhängig und benutzen sie, um sich selbst auszuweichen. Sie brauchen immer jemand, der schwächer ist als sie, um sich selbst stark und liebenswert zu fühlen.
Das äußert sich oft in der sog. Ko-Abhängigkeit, die regelmäßig bei Angehörigen von Alkoholikern und anderen Suchtkranken anzutreffen ist. Der ko-abhängige Mensch geht ganz darin auf, seinen suchtkranken Nächsten zu helfen, sie auszuhalten, zu beschimpfen und zu bevormunden und ihnen immer wieder zu verzeihen und eine neue Chance einzuräumen. Auf diese Weise erlaubt die ko-abhängige Person den Kranken, süchtig zu bleiben, und stabilisiert die Krankheit, denn, wenn die Kranken gesund würden, bräuchten sie die ko-abhängige Person nicht mehr.


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Solche Menschen
schämen sich ihrer eigenen Bedürfnisse, falls diese ihnen überhaupt noch bewußt sind. Weil sie überzeugt sind, daß niemand sie ertragen kann, tun sie sich schwer, ein seelsorgerisches Gespräch oder eine Therapie in Anspruch zu nehmen. Sie hassen sich wegen ihrer Abhängigkeit und stöhnen innerlich darüber, daß sie nicht "nein" sagen können. Aber da sie kein Selbstwertgefühl haben, wußten sie gar nicht, was sie tun sollten, wenn keiner sie bräuchte.

Es ist schwer,
die Zwiespältigkeit des Helfens bei sich und anderen nüchtern und deutlich wahrzunehmen, denn jahrhundertelange christliche Erziehung hat das Helfen zum Wert an und für sich und zur höchsten Tugend erhoben. Wir wissen heute jedoch. daß kein Mensch auf Dauer für andere da sein kann, wenn er nicht selbst einen Ort und eine Quelle hat, wo er seine Kräfte erneuern und die eigenen Bedürfnisse nach Liebe und Zuwendung stillen kann.


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Die HelferInnenrolle
kann auch im religiösen Leben zur Barriere werden, wenn HelferInnen das Gefühl haben, daß Gott sie mehr braucht als sie ihn und daß ihre Liebe die Welt erretten kann. Auch sie manupulieren andere und reagieren mit Zorn und Haß, wenn diese sich aus dem Gefängnis Ihrer anmaßenden Liebe befreien.

HelferInnen
müssen lernen, sich selbst zu lieben wie ihren Nächsten. Nächstenliebe, die Ersatz für Selbstliebe ist, ist krank und macht andere krank und abhängig.


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HelferInnen
müssen auch lernen, "nein" zu sagen, d.h. ihrem Drang zu widerstehen, immer und überall da zu sein, wo sie angeblich gebraucht werden. Denn Menschen, die sich immer brauchen lassen, werden auch ausgenutzt. Immer nur Geben und nichts Positives Zurückbekommen führt aber notwendig in die Frustration.

Falscher Stolz
und falsche Demut sind Zwillinge. Echte Demut basiert auf einer realistischen Selbsteinschätzung und einem gesunden Selbstwertgefühl. Wer seinen eigenen Wert kennt und allein sein kann, braucht nicht ständig Bestätigung, Dankbarkeit und Feed-back von anderen, um leben zu können.


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Die Bibelgeschichte
von den Schwestern Maria und Martha illustriert dies. Während Jesus bei beiden zu Gast sitzt, sitzt Maria bei ihm, hört ihm zu und diskutiert mit ihm sie verhält sich als selbständiges, reifes Gegenüber. Martha dagegen fügt sich in die klassische Frauenrolle und dient zu Tisch, obwohl es ihr offenkundig keine Freude macht. Es ärgert sie, daß Maria ihrem "egoistischen Bedürfnis" nachgeht, dasitzt, zuhört und redet. Schließlich fährt Martha ihren Gast an: "Ist es Dir egal, daß meine Schwester mich alles allein machen läßt? Sag' ihr, daß sie mir helfen soll!" Jesus weigert sich: "Martha, Du machst Dir viele Sorgen und Mühe um andere. Aber nur eines ist wirklich nötig. Maria hat das Bessere gewählt, das will ich ihr nicht nehmen" (Lukas 10, 38 -42).

Maria und Martha
verkörpern zwei wichtige Aspekte der Liebe: die Fähigkeit, selbstlos zu dienen, und die Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse ernstzunehmen und ihnen Raum zu schaffen im eigenen Leben. Zeichen dafür, daß ein Mensch, der anderen gern hilft, dennoch frei ist, ist die Erfahrung der Dankbarkeit. Die/der freie Helferln erwartet nicht mehr, daß Gott und die Welt ihr dankbar sind, weil sie soviel für sie leistet. Sie können sich über kleine Zeichen der Zuwendung und das beschränkte Maß an Liebe, das in einer Beziehung möglich ist, freuen. Sie können andere freigeben und freuen sich mit, wenn Menschen, um die sie sich gesorgt hat, in Freiheit den eigenen Weg finden.

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Damit ist das Thema natürlich noch längst nicht erschöpft.

Wenn man manipulativ einen Menschen dazu bringen möchte, einen zu mögen (ich weiß, diejenigen, die an die selbstlose Aufopferung glauben, streiten vehement ab, andere dazu bringen zu wollen, einen zu mögen, aber ich sage dir *zwinker* : Daraus besteht das halbe Leben), welche Methode ist sicherer:
a) Ihm die Mineralwasserkisten in die Wohnung im 5. Stock zu schleppen oder
b) Ihn dazu zu bringen, dir die Mineralwasserflaschen in deine Wohnung in den 5. Stock zu schleppen?

Ganz eindeutig: Methode b).

Was passiert, wenn ich für jemand anderen etwas tue ? Es stärkt mein Selbstbewußtsein, ich fühle mich als guter hilfsbereiter Mensch. Außerdem fühle ich mich schlapp und müde, weil ich Mineralwasserkisten in den 5. Stock geschleppt habe. Aber, da ich (jeder hat ein gutes Selbstwertgefühl, darauf basiert die ganze Sache) das für jemand getan habe, muß dieser andere ein guter Mensch sein, für den es sich lohnt, etwas zu tun.

Wie fühlt sich dagegen der andere, der Empfänger der Dienstleistung ? Er fühlt sich vor allem schwach, weil er hat es nicht geschafft, die Kisten selbst zu schleppen. Er mußte die Hilfe von diesem anderen in Anspruch nehmen. Da aber auch er ein gutes Selbstwertgefühl hat, wird er dieses Ungleichgewicht, das entstanden ist, anders wieder abbauen. Er wird den Helfenden abwerten. Er denkt: Dieser blöde Kerl, hihi, war so bekloppt und hat mir die Kisten nach oben geschleppt. Wie kann man nur so doof sein.

So.. Ich sage nicht, daß dieses Modell 100% der Fälle abdeckt. Aber es erklärt, warum soviele, die Geld verliehen haben, von demjenigen, der ihnen das Geld nicht zurückzahlen kann, regelrecht gehaßt werden. Deshalb verleihe ich kein Geld an Freunde, wenn, dann verschenke ich es. Aber auch das nur, wenn ich weiß, daß es keine gute Freundschaft ist, denn Freunde begegnen sich am besten auf gleicher Ebene.

Tawa, ich habe aus deiner Antwort herausgelesen, daß du durchaus ganz Ähnliches erlebt hast.

Selbstlosigkeit gibt es in meinen Augen nicht. Oder sagen wir: Es gibt Selbstlosigkeit nur für denjenigen, der die subtilen Motive nicht erkennen kann.

Liebe Grüsse, Bonnie




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