eingeschickt
Geschrieben von detlef am 13. März 2007 17:57:56:
im Anhang sende ich Ihnen einen Artikel, der vor allem BBouvier interessieren könnte.
Dieser Artikel könnte auch für manche interessierte Leser eine Antwort darauf geben, warum gibt es so viele Prophetien und warum gehen so viele in eine ganz bestimmte Richtung.
Herzliche Grüße
Der Antichrist
Reinhard Raffalt
Lins-Verlag, A-6804 Feldkirch, Lehenhofstraße 3 – 199025 Jahre sind verstrichen zwischen Abfassung und Druckle-gung von Reinhard Raffalts "Der Antichrist".
Viel und anhaltend wird heute von Friede und Einheit gespro-chen.
Raffalts Analyse über Wesen und Wirken des Antichristen erhält den Beweis ihrer Richtigkeit durch die Entwicklungen und Ereig-nisse der Gegenwart. Denn wenn der Autor von den antichristli-chen Kennzeichen spricht und dabei die Rede ist vom "autonomen Menschen", von der Wahrheit, die "durch die Toleranz in viele Halbwahrheiten zerlegt" wird, vom "Weltfrieden", vom "weltum-spannenden Staat" und der Einheitsreligion, dann drängt sich die beklemmende Frage auf: Sind wir da nicht schon bereits ange-langt?
Während Kardinal John Henry Newman in seinem gleichna-migen Werk darlegt, daß der Feind Christi sich aus dem Abfall von Gott erhebt, gemäß dem Wort des Apostels: "Zuvor muß der Abfall kommen, und der Mensch der Gesetzlosigkeit muß sich offenba-ren.:." (2 Tess 2,3), erhellt Raffalt in seiner Schrift, wie der Antichrist das Christentum für seine Dienste vereinnahmt. Spielt sich nicht beides vor unseren Augen ab?
Die Studie "Der Antichrist" ist anspruchsvoll geschrieben und erfordert gewiß eine große Aufmerksamkeit beim Lesen. Der Leser möge sie also nicht gleich beiseite legen, sondern sie wiederholt zu Gemüte führen. Er wird daraus viel Kraft erhalten zur Wachsam-keit und den Rat des hl. Cyrill befolgen: "Bereite dich deshalb vor, o Mensch. Du hörst von den Zeichen des Antichristen - erinnere dich nicht bloß an sie, sondern teile sie frei deiner Umgebung mit. Wenn du ein Kind hast nach dem Fleisch, zögere nicht, es zu unterrichten. Wenn du ein Lehrer bist, bereite auch deine geistlichen Kinder vor, damit sie nicht das Falsche für das Wahre nehmen, 'denn das Ge-heimnis des Bösen wirkt schon jetzt". Ich fürchte die Kriege der Völker, ich fürchte die Spaltungen unter den Christen, ich fürchte den Haß unter Brüdern. Genug. Aber Gott verhüte, daß es erfüllt werde schon in unseren Tagen. Indessen, wir wollen vorbereitet sein.
Der HerausgeberVorwort
Reinhard Raffalt, geboren 1923 in Passau, studierte Musik, Philosophie und Geschichte in Leipzig, Passau und Tübingen. Nach seinen Studien führte sein erster Weg zum Bayrischen Rundfunk, dem er als freier Mitar-beiter seit 1948 verbunden war.
1952 ging er für den Bayrischen Rundfunk als Kor-respondent nach Rom. Dort war er auch als Organist tätig.
1954 wurde er zum Direktor der Bibliotheca-Germa-nica in Rom berufen.
1960 übernahm er die Aufgaben eines Sonderbeauf-tragten des auswärtigen Amtes für die deutschen Kul-turinstitute in Asien und Afrika, bis er dann 1962 wieder für den Bayrischen Rundfunk als freier Schriftsteller und Korrespondent nach Rom ging.
In diese Zeit fällt auch seine beachtenswerte Studie "Der Antichrist", die er um 1966 aus der Fülle seines Wissens und seiner reichen Erfahrung verfaßte.
Dies ist nicht das Werk eines Phantasten, sondern eines tiefgründigen Denkers und Philosophen. Der Ernst des Inhaltes dieser Studie wird unterstrichen durch den Interpreten. Er selbst ist es, der hier eindringlich die Zeichen der Zeit im Licht der Geheimen Offenbarung in eine jedem verständliche Sprache zu übersetzen ver-sucht
Reinhard Raffalt lebt nicht mehr. Im Alter von 53 Jahren verstarb er 1976 in München. Er hat uns eine Mahnung hinterlassen, die ungeteilte Aufmerksamkeit verdient.
I.
Vor etwas mehr als siebenhundert Jahren wurde ein beträchtlicher Teil der Christenheit von einem Manne regiert, dem seine Gegner das Wort in den Mund legten: "Drei Verschwörer haben ihre Zeitgenossen so schlau verleitet, daß sie in den Besitz der Weltherrschaft ka-men - Moses, Jesus und Mohammed." Von Foggia aus, einem Ort im süditalienischen Apulien, herrschte dieser Mann - obwohl die Päpste ihn mehrmals exkommuni-ziert hatten-über Deutschland, Österreich, Italien und Sizilien mit der Klugheit eines illusionslosen Staatsman-nes und der Skepsis eines aufgeklärten Vernunftmen-schen. Sein Palast war bevölkert von arabischen Gelehr-ten - und von seinem sarazenischen Harem flüsterte man sich, halb empört und halb fasziniert, die Kunde unerhörter Laster zu. Er schuf ein strenges Rechtssy-stem, verstaatlichte die Gewinnung von Salz, Minera-lien und Textilien, legte Modellgüter an und verließ sich in der komplizierten Verwaltung des Staatsapparates auf eine Elite gebildeter Beamter. Er sprach neun Spra-chen, darunter arabisch und griechisch, schrieb klassi-sche Verse, ein Buch über die Falkenjagd und führte eine Korrespondenz mit Gelehrten zwischen Cordoba und Bagdad. Ein Zeitgenosse sagte ihm neidvoll: "0 glückli-cher Kaiser, ich glaube wahrhaftig, wenn jemand durch sein Wissen dem Tode entgehen könnte, dann wärest du es."
Dieser Mann war Kaiser Friedrich II. Da sein Herrschaftsgebiet den Kirchenstaat von Norden und Süden einschloß und seine Regierungsform der eines weisen, aber unfrommen Potentaten glich, fand er in den Päp-sten seine natürlichen Gegner. Und nachdem nicht ein-mal die formelle Ausschließung aus der Gemeinschaft der Gläubigen, der große Bannfluch, den Kaiser von seiner Vernunfthörigkeit abzubringen vermochte, scholl ihm aus Rom immer wieder eine Anschuldigung entge-gen, die damals in der Bevölkerung nachhaltigen Ein-druck hinterließ. Der Kaiser - so hieß es - sei der Anti-christ.
Ein halbes Jahrhundert später wählte ein gespaltenes Konklave nach monatelangen Beratungen einen Eremi-ten aus den Abruzzen zum Papst. Der Widerstrebende wurde aus seiner Klause im Gebirge hervorgeholt, nahm den Namen Cölestin V. an und begann - Spielball tausendfältiger politischer Ränke - auf dem Heiligen Stuhl eine Mißwirtschaft, die die Kirchenverwaltung in-nerhalb weniger Monate in ein Chaos stürzte. Die einzi-ge überragende Persönlichkeit unter den Kardinälen war der Graf Gaetani, ein reich begüterter, scharf den-kender Aristokrat, der den Gleichmut besaß, die Zu-stände in Rom bis zur Unerträglichkeit ausreifen zu las-sen, bevor er eingriff. Als es soweit war, zwang er den unfähigen, aber heiligmäßigen Einsiedlerpapst, der im-merhin rechtmäßig geweiht worden war, seinem Amte freiwillig zu entsagen. Als einziger Papst der Kirchenge-schichte trat Cölestin V. in großem Ornat vor die Ver-sammlung der Kardinäle, legte die pontifikalen Gewän-der, eines nach dem andern, ab und kniete schließlich, nur noch mit seiner alten Eremitenkutte bekleidet, vor
den Würdenträgern der Kirche nieder, für seine Unter-lassungen um Verzeihung bittend. Obwohl die Erschüt-terung der Anwesenden groß war, hinderte niemand den Urheber der tragischen Szene, den Kardinal Gaeta-ni, als Nachfolger des Abgedankten den Stuhl Petri zu besteigen. Wenig später erließ der neue Papst, Bonifaz VIII., ein Sendschreiben an die Könige und Fürsten der Christenheit, das in der Behauptung gipfelt:
"Wir erklären - aus Notwendigkeit des Heiles - alle menschliche Kreatur dem römischen Pontifex un-terworfen."
Geringer als Gott, aber größer als der Mensch - so hat Bonifaz Vlll. sein Amt und sich selbst gesehen. Die Ausrufung des ersten Heiligen Jahres im Dezember 1299 brachte halb Europa pilgernd nach Rom und schien die absolute Oberherrschaft des Papstes über die Chri-stenheit zu bestätigen.
Drei Jahre später aber finden wir den stolzen Ponti-fex von allen Helfern verlassen in seinem Palast zu Anagni. Der König von Frankreich hatte gegen die Anmaßung des Papstes, nicht nur der Nachfolger Petri, sondern auch der Erbe Julius Cäsars zu sein, einen Anschlag geplant. Die Häscher erstürmten den Palast, drangen in die päpstlichen Gemächer ein, fanden sie menschenleer und standen plötzlich vor dem greisen Bonifaz, der einsam auf seinem Throne saß, die Tiara auf dem Haupt. Man wollte den Papst zwingen, seine Ab-dankungsurkunde zu unterschreiben und schlug ihm, als er sich weigerte, mit Fäusten ins Gesicht. Vierzehn Monate später war Bonifaz Vlll. tot, nachdem er seine letzte Lebenszeit in geistiger Umnachtung verbracht hatte. Der wirkungsvollste Vorwurf, der sich in der Christenheit gegen seinen Hochmut und sein Macht-streben erhoben hat, hieß: Bonifaz VIII. sei der Anti-christ.
In einem Jahrhundert also fiel die Bezichtigung, die von einem Papst dem römischen Kaiser gegenüber ausgesprochen war, auf einen anderen Papst zurück. Unsere spätzeitliche Vorstellungskraft reicht kaum mehr aus, uns zu vergegenwärtigen, wie tief der Schrecken und wie gegenständlich die Wirkung waren, die das Wort Antichrist damals in den Menschen hervorzuru-fen vermochte. Denn die letzten Dinge, das geheimnis-voll bevorstehende Jüngste Gericht, dessen Hereinbre-chen über die Menschheit jedermann für sicher hielt, die Anhäufung der von jedem einzelnen Menschen began-genen Sünden, die die Strafe des Himmels immer stär-ker herausfordern mußten - dies alles war für die Menschen des hohen Mittelalters eine Wirklichkeit, ihrem Geiste greifbar wie ihren Händen das Brot auf dem Tische. Jedermann war darauf gefaßt, die Sterne aus ihren Bahnen fallen zu sehen und die Posaune des Gerichtes zu vernehmen, die die Gesetze der Natur außer Kraft setzen würde. Jedermann trug in sich die Ahnung von einem Kampf zwischen Dämonen und Engeln um die Seele des Menschen. Jedermann schließ-lich lebte mit den Seelen der Abgestorbenen, als hätten sich die Gräber schon geöffnet, als seien die Blutzeugen des Glaubens schon vor den Weltenrichter gelangt, um Genugtuung für ihr Opfer zu verlangen. Die apokalyp-tischen Reiter, Pest, Hunger, Krieg und Tod, schienen die von blutigen Zwisten verwundete Erde schon zu
durchschweifen, die Zeit schien vorbei, in der es den Menschen vergönnt war, aus freiem Willen ihr Heil zu fördern. Und der Antichrist war damals nicht nur der äußerste Schmähtitel für einen Menschen, den die Feind-schaft gegen Gott und den Glauben in seiner Totalität ergriffen hatte - der Antichrist war gleichzeitig der letzte notwendige Vorläufer, der das Erscheinen des Weltenrichters heraufzubeschwören hatte.
Man sprach im Mittelalter oftmals von einem "My-sterium iniquitatis". Wenn das in der Erbschaft der Sünde stets gefährdete Menschengeschlecht schon des Geheimnisses der Erlösung durch Gottes eingeborenen Sohn bedurfte, um gerettet zu werden - so mußte es auch ein Geheimnis des Widersachers geben, eine nega-tive Erlösung, ein Mysterium der Feindschaft. Sein Urheber war, gemäß dem biblischen Bericht, der Engel Luzifer, der sich nach seiner Empörung gegen Gott wahrhaft in einen Anti-Gott verwandelt hatte. Und wie Gott seinen eigenen Sohn zum Erlöser der Welt werden ließ, so mußte der Fürst der Finsternis ebenfalls eine Inkarnation erzeugen, die folgerichtig zum Antichrist sich ausbildete. Da aber der Sohn Gottes in menschlicher Gestalt auf Erden erschienen war, so würde es der Anti-christ nicht anders tun. Er würde der vollkommenste Mensch sein, wie Luzifer der vollkommenste Engel war. Und er würde die größte Gegenmacht gegen die Erlö-sung mobilisieren, die inner]~alb der menschlichen Natur denkbar ist. Innerhalb des irdischen Geschickes würde Christus gegenüber dem Antichrist nur einen einzigen Vorteil haben: den des früheren Erscheinens. Denn dem Antichrist ist das Ende der Zeiten zugewiesen, wogegen Christus mitten in der Weltgeschichte auftrat. Hingegen wird, nach dem damaligen Glauben, der Antichrist ein machtvoller Weltherrscher sein, während Christus den schmachvollen Tod römischer Sklavenhinrichtung zu erleiden hatte. Im Vergleich dieser Situationen offenbart sich vielleicht einer der Gründe, die Christus veranlaßt haben, auf die zwölf Legionen Engel zu verzichten, die ihn vor dem Kreuzesschicksal hätten retten können. Hätte er sie gerufen - es wäre ein Schritt auf dem Wege des Antichrist gewesen.
So erscheint das Bild dieses rätselhaften Menschen zunächst als auslösende Figur für den Zusammenbruch der zeitlichen Welt. Zugleich ist er eine Art Anti-Adam - der vollkommenste denkbare Mensch ohne Gott, der am Ende der Zeit steht, wie der vollkommenste denkba-re Mensch mit Gott am Anfang der Schöpfungsgeschich-te stand. Aus unserer Sicht ist das Auftreten Christi ein historisches Ereignis. Das Auftreten des Antichrist hin-gegen gehört in demselben Sinne der Zukunft, wie der endzeitlich erscheinende Messias in der jüdischen Reli-gion. Furchtbarerweise kam schon in den Urzeiten des Christentums die Tradition auf, der Antichrist werde seine überzeugtesten Anhänger unter den Juden finden, da diese ihn notwendig für den Messias halten müßten, weil sie den wahren Messias Christus nicht als solchen anerkennen. Die Verirrungen und Verbrechen, die im Verlaufe zweier Jahrtausende unter dem Mißbrauch des Namens Christi an jüdischem Volk begangen worden sind, haben also unter ihren Wurzeln eine, die zum Begriff des Antichrist hinabreicht. So wird man füglich kaum sagen können, der Antichrist sei eine reine Phan-
tasievorstellung, die der Wirklichkeit entbehrt. Lange schon vor seinem Erscheinen hat allein sein Name Furcht-bares bewirkt.
Was also ist der Antichrist? Bis zu diesem Augen-blick betrachten sich, soviel ich sehe, die meisten Men-schen auf dem Erdball als Wesen, die an irgendeine Kraft oder Macht gebunden sind. Die natürliche Exi-stenzform des Menschen scheint eingebettet in Bedin-gungen, die seine Grenzen abstecken: Familie, Nachbar-schaft, soziale Gemeinschaft, Zivilisation, Natur, Klima, Anziehungskraft der Erde, Teilhaberschaft an der Ge-samttatsache des Sonnensystems und des Weltalls. Durch alle diese Bedingungen läuft eine übergeordnete: die Zeit. Jedes einzelne Leben hat einen Anfang, einen Verlauf, jeder Mensch ist in seiner körperlichen Existenz dem Rhythmus des Herzschlags, dem Ein- und Ausat-men, schließlich dem Aufbau und Verfall seiner Kräfte unterworfen. Die Proportion seiner Widerstandskraft zu den Belastungen des Daseins kann Zerreißproben aushalten oder an Belanglosigkeiten zerschellen. Der Mensch ist frei in seinen Entscheidungen, ohne daß er die Gegensätze, zwischen denen er entscheiden muß, selbst herbeizuführen vermöchte. Was auch immer er tut, wie auch immer die Wirkungen seines Handelns, Denkens, Fühlens sich in Bereichen fortsetzen, die sei-ner Kontrolle entschwinden - nur einen Zeitpunkt gibt es, der sicher ist und alles aufsammelt, was das Dasein des Menschen ausgemacht hat: der Tod.
Solange der Mensch den Tod noch vor sich hat, kann er auf gegensätzliche Weise mit ihm leben. Er kann zu der Überzeugung gelangen, sein Tod sei das definitive Ende nicht nur seiner Existenz, sondern seines Wesens. Und er kann eine gewisse Befriedigung in der Vorstel-lung finden, daß alles, was er in seinem Leben getan oder gelassen, auf positive oder negative Weise bewirkt hat, mit dem Zeitpunkt seines Todes gewissermaßen das Allgemeingut derjenigen wird, die von diesen Wir-kungen betroffen wurden. Rückgabe des Lebens an die Allnatur, Eingehen der Persönlichkeit in das ewig sich erneuernde Kraftfeld des Lebens überhaupt, Versinken im Meer zeitloser Vergessenheit - das sind Lösungen, die die Menschheitsgeschichte intensiver begleiten als das Streben nach irdischem Glück, nach Zufriedenheit oder materieller Wohlfahrt. Andererseits kann der Mensch auch zu der Annahme gelangen, durch Geist und Einsicht, durch die Fähigkeit zu denken, das Ge-dächtnis, die Gabe des Lachens und die Erweckung des sich selbst entäußernden Gefühls der Liebe ein Wesen zu sein, das mit seinem nicht materiellen Teil eine gewisse Herrschaft über die Zeit erlangt. Uns allen ist bekannt, wie dehnbar der Augenblick sein kann. In unserer Erin-nerung werden kurze Momente wahren Glücks, die mit der Uhr gemessen winzige Zeitspannen umfassen, zu halben Ewigkeiten. Lange Strecken des Leidens, der Niedergeschlagenheit, der Bewältigung widriger und unseliger Umstände schrumpfen in unserem Gedächt-nis zu verhältnismäßiger Bedeutungslosigkeit zusam-men. Wir manipulieren die Zeit, indem wir sie aus der Vergangenheit hervorrufen und in einer vollkommen unmateriellen Vorstellungswelt unseres Inneren aufs neue zur Gegenwart machen. Es könnte also immerhin sein, daß der geistige Teil der menschlichen Natur der Zeit nur scheinbar untergeordnet, in Wahrheit aber ihr überlegen ist.
Da dies alles Überlegungen sind, die vor dem Eintritt des eigenen Todes angestellt werden, bleiben sie in die freie Entscheidung jedes einzelnen Menschen gestellt. Denn von jenseits der Barriere des Lebensendes kom-men keine beweisbaren Antworten in unsere zeitliche Begrenztheit. Von den vielen möglichen Unterschei-dungen, die man mit der Menschheit anstellen kann, läßt sich wahrscheinlich auch heute noch die wichtigste in die Frage ausformen: ist mit dem Tode alles aus - oder lebt das Wesentliche des Menschen nach dem Tode weiter? Alles, was das Christentum zur Religion macht, gründet auf der Anerkennung der Unsterblichkeit der menschlichen Seele - und zwar jeder einzelnen Seele. Denn wenn es schon, wie die Kriminalistik am Beispiel des Fingerabdrucks erweist, keine zwei gänzlich identi-schen menschlichen Körper gibt, so kann konsequenter-weise angenommen werden, daß auch die menschliche Seele eine unverwechselbare Individualität besitzt, die sie auch nach dem Tode nicht verliert.
Das heißt: daß der Mensch ist, wie er ist; daß er überhaupt die Möglichkeit denken kann, den eigenen Tod mit seinem Wesenskern zu überleben, läßt uns die Einwirkung einer höheren Macht beim Hervorrufen des Individuums ahnen. Das Individuum wiederum, das Unteilbare, die Persönlichkeit, die wir in uns verspüren, verlangt, daß diese höhere Macht eine übergeordnete Persönlichkeit sei, und nicht eine neutrale Kraft, die sich beliebig teilen oder vereinigen läßt.
Hieraus entspringt die Urtatsache des menschlichen Bewußtseins, ein geschaffenes, deutlicher gesagt, ein mit Plan geschaffenes Wesen zu sein. Kein Plan hat einen Sinn, wenn er nicht einem Ziele zustrebt. In der Gestaltwerdung eines jeden einzelnen Menschen muß also ein Vorhaben verborgen sein, das seine Existenz, die Art und Weise seiner Persönlichkeit und deren Überlegenheit über die Zeit rechtfertigt. In diesem Sinne versteht sich der Mensch als Teilhaber einer über den Tod hinausreichenden Entwicklung. Seine Unsterblich-keit aber ist nur möglich, weil sie bedingt ist durch die Unsterblichkeit Gottes. Die Schwierigkeit in dieser Ar-gumentation liegt allein im Schweigen des Todes, wodurch wir gehindert werden, als bewiesen zu erken-nen, was wir in den Grenzen der Zeitlichkeit nur ahnen können. Hier setzt der Glaube ein und damit das Grund-prinzip des Christentums, das die Behauptung aufstellt, der Tod könne nur durch eine einzige Kraft überwun-den werden: die Liebe.
Neigt man indessen der erstgenannten Annahme zu, Seele, Geist, Kraft und Körper des Menschen seien durch seine Natur daraufhin angelegt, mit dem Tode zu en-den, dann bietet sich ein gänzlich anderes Bild. Nicht mehr einem Ziele, das außerhalb der Zeit liegt, ist der Mensch dann zugeordnet, sondern einer Quantität an Lebenszeit, aus der er machen muß, was ihm möglich ist. Weitergeben kann er nur Wirkungen seiner Exi-stenz, die von andern Existenzen positiv oder negativ aufgesogen, verarbeitet und neuerdings weitergegeben werden. Ein Mensch, der dies annimmt, kann des Schöp-fers nicht nur entbehren, er wird ihn geradezu als hin-derlich empfinden, die eigene Natur zu wahrer Größe
zu entfalten. Als Aufgabe, Wirkungsbereich und Da-seinsgrund ist ihm sein Milieu gegeben, seine Mitmen-schen treten als Fordernde auf, deren Ansprüche er im Guten erfüllt und im Bösen hintergeht. Jedenfalls ist die Daseinswirklichkeit eines solchen Menschen von nichts anderem abhängig als von ihm selbst, ihre Bedingungen hingegen folgen der blinden Mechanik der Natur, für deren Funktionieren oder Ausfall der Mensch nicht verantwortlich gemacht werden kann. Über die Persön-lichkeit senkt sich die Glasglocke der Isolation; die Verpflichtung gegenüber einem höheren Wesen entfällt zugunsten einer innermenschlichen Entscheidung - nicht mehr zwischen Gut und Böse, sondern zwischen sozial und asozial. Fraglos ist dies eine legitime Ent-wicklungsmöglichkeit für das Individuum. Wenn es sie wählt, entsteht als Grundforderung für das menschliche Dasein ein Reglement des Sozialempfindens, das in einer zivilisierten Gesellschaft mit dem Begriff der Anständigkeit zusammenfällt. Ich lebe so, daß niemand Schaden leidet, mein Wille ist, durch tätige Hilfe der Gemeinschaft förderlich zu sein. Was ich damit erreiche, vererbe ich den jüngeren Generationen im Augenblick meines Todes und bin aller Verpflichtungen ledig, die über meine Natur hinausreichen. Daraus läßt sich ein kategorischer Imperativ ableiten, eine unmittelbare Selbstanweisung, ein Eigenbefehl zum richtigen Leben, wobei es darauf ankommt, richtig und falsch genau zu unterscheiden, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob richtig und falsch gleich gut und böse sind oder nicht. Der richtig lebende Mensch entwickelt sich nach seinen Anlagen zu einem beinah technisch funktionierenden Wesen, dessen einzige Bestrebung sein muß, nichts falsch zu machen. Der letzte, vollkommenste, alles rich-tig machende Mensch innerhalb der überschaubaren Grenzen der menschlichen Erfahrung und Vernunft ist - der Antichrist.
Es handelt sich also keineswegs um einen Teufel. Im Gegenteil: der Antichrist erfüllt wortwörtlich die Forde-rung des Evangeliums "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst"(vgl. Mt 22,39). Aber er leugnet gleichzeitig die Voraussetzung des Gebotes der Nächstenliebe, die im Evangelium einen Satz weiter vorne steht:
"Du sollst den Herrn deinen Gott lieben, aus deinem ganzen Herzen,. aus deinem ganzen Gemüte und aus allen deinen Kräften"(Mt 22,37).
Da diese Voraussetzung fehlt, wird das Gebot der Nächstenliebe ein scheinbar allmächtiger Eigengrund-satz, der aus dem irdischen Dasein erwächst. Ohne die Liebe zu Gott verkehrt sich vor allem der Zusatz "wie dich selbst" geradezu in die Notwendigkeit der Eigen-liebe. Im christlichen Verständnis geht der Weg des Menschen zu seinem Nächsten über den gemeinsamen Schöpfer beider. Im menschlichen Bereich allein bedarf es dieses angeblichen Umweges nicht - hier wird das Teilgebot des Evangeliums, den Nächsten zu lieben, ganz von selbst zum Grundsatz, die Eigenliebe als Gradmesser für die Nächstenliebe anzusehen. Wenn wir also nach dem Wesen des Antichrist fragen, so könnten wir nach den bisherigen Überlegungen die Formel wagen: der Antichrist ist ein Mensch, der seinen Nächsten genauso sehr liebt wie sich selbst, aber nichts hat, was er mehr liebt.
Im 16. Jahrhundert zirkulierte in Deutschland ein Flugblatt, worauf in primitivem Holzschnitt der Anti-christ zu sehen war. Entgegen den Voraussagungen der Geheimen Offenbarung präsentiert sich die rätselvolle Erscheinung nicht in menschlicher, sondern in der Gestalt eines regelmäßigen Zylinders mit konischer Spitze, also in der Form einer modernen Bombe. Flächenhaft sind in diese glatte Hülle Gesichtszüge eingegraben, die die Vernunftbegabtheit des technisch vollkommenen We-sens ausweisen sollen. Wenn wir dieses Flugblatt heute in die Hand nehmen, befällt uns vielleicht einen Augen-blick lang der Schrecken vor so präziser Prophezeiung. Denn ein Gerät dieser Art war dem Jahrhundert der Reformation nicht bekannt. Was der Zeichner oder sein Anreger aber meinten, war gar nicht prophetisch. Der Antichrist sollte einfach die rundeste, am meisten rei-bungsfreie Gestalt erhalten, auf die sich der Mensch in seiner Körperlichkeit zurückführen läßt. Damit sollte die Kälte ausgedrückt werden, in die der Mensch not-wendigerweise fällt, wenn seine Reibungen gegenüber der Umwelt gänzlich abgeschliffen sind. Von hier aus erkennt man, warum der Antichrist seit den ältesten Zeiten aufs engste verbunden ist mit der extremen Ent-faltung irdischer Macht. Wahrhafte Macht auf dieser Welt setzt immer eine Verringerung von Widerständen voraus. Sie ist nur zu erreichen, wenn Menschen sich zu Teilen eines mechanisch funktionierenden Apparates gebrauchen oder mißbrauchen lassen. Ein solcher Macht-apparat bedarf dann nur einer gewissen Gleitschicht, die die gesetzmäßige Beweglichkeit seiner Glieder gewährleistet. Im Falle des Antichrist ist diese Gleitschicht eine verführerische Idee: nämlich den Weltfrie-den zustandezubringen. Offen bleibt lediglich, worauf der Mensch wird verzichten müssen, damit das Welt-friedensparadies Wirklichkeit werden kann. Der Anti-christ wird notwendigerweise den Menschen als ein ausschließlich in der Gemeinschaft existierendes Wesen behandeln müssen. Von hier aus ist nur noch ein Schritt bis zu der Vorstellung, es gäbe eigentlich gar keinen Einzelmenschen, vielmehr umfasse das Wesen Mensch notwendig alle menschlichen Lebewesen und habe nur in der organisierten Gesamtheit eine Art von Individua-lität. So gesehen wird der Antichrist zu einer Führerge-stalt, die die Menschheit auf den Pfad der Selbstentäu-ßerung des Einzelwesens führt und zur Preisgabe der individuellen Persönlichkeit veranlaßt.
Eigenartigerweise sind viele alte Deutungsversuche und Prophezeiungen, die im Zusammenhang mit dem Antichrist stehen, begleitet von dem Bild des schlafen-den Kaisers. Als Nero, den man schon zu Lebzeiten für den Antichrist gehalten hat, ermordet wurde, verbreite-te sich unter seinen Anhängern die Legende, der Kaiser sei gar nicht tot, er habe sich nur verborgen, um eines Tages mit großer Macht wieder hervorzutreten und seine Feinde zu zerschmettern. Nach dem Fall des Hau-ses der Komnenen im Kaiserreich Byzanz wiederholte sich diese Legende und fast gleichzeitig ergriff sie die Gestalt des Kaisers Friedrich Barbarossa, der im Kyff-häuser oder im Untersberg seiner endzeitlichen Wieder-kehr entgegenschlafe. Auch wenn man solchen Erfin-dungen keinen Wert beimißt, bleiben sie ein eigenarti-ges Symptom für den Menschheitstraum, eine irdische
Erlösung aus eigener Kraft zustandezubringen, die der zukünftigen Menschheit Ordnung erstrebenswerter er-scheinen läßt als Freiheit.
Ordnung um ihrer selbst willen kann aber nur Form, nicht Inhalt sein. Sie zu erzeugen bedarf es der allmäh-lichen Zerstörung der inneren Eigengesetzlichkeit des Individuums. Das heißt: der Mensch muß in seinem Be-wußtsein dazu gebracht werden, seine Seele und somit die persönliche Freiheit als ein Chaos zu empfinden. Und so versteht die Tradition seit dem ersten Auftau-chen des Begriffes Antichrist dessen geheimnisvolle Gestalt als den Fürsten des Chaos. Um den Eintritt totaler innerer Verwirrung in der Menschheit zu be-werkstelligen, bedarf es langer Vorbereitung. Also hat der Antichrist viele, zum Teil verborgen wirkende Vorläufer, die über den Gesamtverlauf der Zeit verteilt, steigende Ratlosigkeit verbreiten. Ihrem Werk kommt zugute, daß der Mensch von Natur aus befähigt ist, unvereinbare Gegensätze in seiner Persönlichkeit durchs Leben zutragen. Sehr viele von uns haben während der letzten Weltkatastrophe persönlich erlebt, daß ein Mensch, der sich zur extremen Grausamkeit fähig er-weist, gleichzeitig ein rührender Familienvater sein kann. Und wenn wir um uns blicken, finden wir allenthalben Zeichen für die seltsame Lust, die den schwarzen Humor veranlaßt, die Entwürdigung des Menschen zum Ge-genstand für dessen eigenes Gelächter zu machen. Die alte barocke These, der Mensch sei der Schauplatz des Kampfes zwischen Gott und dem Teufel, mag als Bild veraltet sein - als Tatbestand gilt sie heute wie zu allen Zeiten.
Wir befinden uns in diesem Augenblick, so will mir scheinen, in der Lage eines Menschen, der ein altes, unbequem gewordenes Haus geerbt hat. Es bereitet ihm ein gewisses Vergnügen, die Mauern auch dort einzu-reißen, wo sie noch tragfähig wären. Und da er diese Zerstörung mit ausgeklügelter Ökonomie vornimmt, wähnt er sich bereits im Besitz eines neuen Ordnungs-prinzips, das das Einreißen zur Kunst erhebt. Ob das Haus, das er an Stelle des alten zu errichten plant, den Gesetzen der Schwerkraft und der Statik entsprechen wird, kümmert ihn wenig. Denn vielleicht wird er es vorziehen, die festen Keller zu seiner Wohnstätte zu machen und in den über der Erdoberfläche aufragenden Trümmern die Vögel des Himmels nisten zulassen. Das heißt: die Vertreibung des Menschen aus der Kunst, der Verzicht auf Schönheit, der Zweckfanatismus und das absichtsvolle Vermeiden-um nicht zu sagen die Scham vor dem Gefühl - sind Phänomene, die unsere Tage beherrschen. Und während das Zeitalter des Massen-staates mit eherner Konsequenz auf immer strengere, immer mechanischere Ordnungen zustrebt, delektiert sich das Individuum am Chaos des eigenen Lebens.
Es ist durchaus denkbar, daß die Mehrheit von Ih-nen, die Sie mir jetzt zuhören, angesichts des Gegen-wartszustandes geneigt sind, das Thema des Antichrist in den Bereich des Kindermärchens zu verweisen. Doch würde auch dies nichts an der Tatsache ändern, daß in der Vorstellung vom Antichrist sich über eine sehr lange Spanne hinweg die Ahnung niedergeschlagen hat, es könne innerhalb der Geschichte zu einer Lebensform der Menschheit kommen, die auf den reinen Zweck
ausgerichtet ist und ihre Eigengesetzlichkeit zum Sinn des Daseins erhebt.
Insofern bleibt uns, gleichviel, ob wir Christen oder Nichtchristen sind, zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur übrig, eine absurde Situation zu bewältigen. Unser Verhältnis zu Christus bedarf der Revision, diese wie-derum ist aber nur möglich unter Einbeziehung alles dessen, was frühere Zeiten in dem Begriff des Antichrist zusammengefaßt und verdichtet haben. Hier öffnen sich mehrere Perspektiven. Nehmen wir die nichtchrist-liche zuerst.
Sie zeigt uns Jesus von Nazareth als einen gescheiter-ten jüdischen Revolutionär, seine Jünger als die Erfinder einer den Gefährdungen des Augenblicks entsprechen-den Geheimsprache, den Apostel Paulus als den Zu-sammenführer ursprünglich unvereinbarer Größen, das heißt als den Verschmelzer von römischem Reich und christlicher Ideologie. In dieser Perspektive haftet dem Antichrist zunächst der Charakter des Legendären an, zugleich aber gewinnt er eine Reihe neuer Qualitäten. Er ist es, der den Aberglauben der Erlösung mit den Mit-teln der christlichen Nächstenliebe überwindet, er führt die Menschheit ihrem eingeborenen Selbstzweck entge-gen, formt die Kirchen um zu einem moralischen Regu-lativ und prägt durch den Weltfrieden die endgültige Gestalt des Erdballs. Der einzige Makel, der einer so aus-schließlich auf sich selbst gestellten Welt noch anhaften würde, wäre der Tod. Aber selbst dieser kann - so scheint es-durch die Vernunft, die Wissenschaft, und das fortschreitende Experiment wenn schon nicht ver-mieden, so doch erheblich verzögert werden. Die Probleme des Menschen auf Erden zu lösen-dies wäre ein Programm, geeignet, das Christentum zu überwinden und der Menschheit ein Verhältnis zur Religion zu brin-gen, worin diese weder der sozialen Höherentwicklung noch der psychologischen Gleichschaltung fortan hin-derlich wäre. Folgerichtig höbe sich der Gegensatz zwischen den Begriffspaaren gut und böse - richtig und falsch - allgemach auf. Ein weltumspannender Staatsapparat würde auf Grund seiner durchorganisier-ten Mechanik von selbst verlangen, die Moral, also das Verhalten des einzelnen, und das reibungslose Funktio-nieren des kollektiven Weltgeschehens einem identi-schen Gesetz zu unterwerfen. So käme es durch das Abschleifen des Individuums zugunsten höherer Ge-meinschaftsformen ganz natürlich zu einer Richtung der individuellen Freiheit. Jene, die den Antichrist heute für eine makabre Schimäre halten, würden sich dennoch in ihren Lebensformen nach Prinzipien richten, deren Vorausahnung die Gestalt des Antichrist in der Vorstel-lungswelt der Menschheit einstmals hervorgerufen hat.
Die nächste Perspektive auf den Antichrist ist die christliche. Ihr zufolge gehört er - trotz der Verschlüs-selung der Texte, die von ihm sprechen - zum Wahr-heitsgut der Offenbarung. In der Apokalypse des heili-gen Johannes finden sich die Worte:
,Und es ward ihm gegeben ein Mund zu reden große Dinge und Lästerungen, und ward ihm gegeben, daß es mit ihm währte zweiundvierzig Monate lang. Und ihm ward gegeben, zu streiten mit den Heiligen und sie zu überwinden...'
(Apk 13,5 ff)
Der Apostel Paulus verbindet das Kommen des Antichrist
"mit allerlei lügenhaften Kräften und Zeichen und Wundern und mit allerlei Verführung zur Ungerechtig-keit unter denen, die verlorengehen, dafür daß sie die Liebe zur Wahrheit nicht angenommen haben..." (vgl. 2 Tess 2,9-12)
Im ersten Johannesbrief findet sich die Stelle:
"Jeder Geist, der Jesus nicht als Christus bekennt, ist nicht aus Gott, und dies ist der Geist des Antichrist, von dessen Kommen ihr gehört habt, und zwar ist er schon jetzt in der Welt" (1 joh 4,3).
Schließlich berichtet die Geheime Offenbarung:
"Es wurde ihm Macht gegeben über alle Völker, Stämme und Nationen" (Apk 13,7). Man hat es also mit einem echten Beherrscher des Menschengeschlechtes zu tun, der sich selbst an die Stelle setzt, die bisher dem persönlichen Gott vorbehalten war. Dies kann auf mehrere Weise geschehen. Vom Antichrist wird als seine hervorstechendste Eigenschaft ausgesagt, er sei ein Lästerer. Das heißt, er bedient sich des Heiligen, um das Heilige zu entweihen, er bedient sich Gottes, um ihn abzusetzen, er bedient sich der Wahrheit, um ihre Rela-tivität zu erweisen. Er ist das wohlausgeformte Bild eines Menschen, der in seiner eigenen Natur alles findet, wessen er zu seinem Wesen bedarf. Im Antichrist wird der Mensch nicht zur Krone der Schöpfung, sondern zum Partner der Natur. Diese ist zwar lebendig, funktio-niert aber nach Gesetzen, die ihr selbst innewohnen - und der Mensch ist es, der ihr seinen Geist verleiht und
- sie dadurch zu höherem Wert gelangen läßt. Es ist ogisch, daß aus einer solchen Verselbständigung des Menschen eine Entgöttlichung des Erlösungswerkes und der Person Christi hervorwachsen muß. Und hier führt uns das Thema des Antichrist an eine Frage, die heute innerhalb und außerhalb der Christenheit neu gestellt wird: ist jener Jesus von Nazareth, den die ersten zwei christlichen Jahrtausende als die zweite Person des drei-faltigen Gottes anerkannt haben, in Wahrheit Gott und Mensch oder ist er, wie wir alle, der menschliche Sohn eines göttlichen Vaters? Wer das letztere für richtig hält, wird den Antichrist getrost in den Bereich sinnbildhaf-ter Phantasie verweisen können. Anders verhält es sich mit dem, der an Christus als dem Gottessohn festhält. Für ihn wird der Antichrist in der Umwandlung der Werte, wie sie die Gegenwart ergreift, eine zwar immer noch bevorstehende, aber schon fast hautnahe Realität. Die Entscheidung für oder gegen die göttliche Natur in Christus bringt zwangsläufig die Stellungnahme zu dem künftigen Weltbeherrscher mit sich-auch wenn dieser bislang nur eine theoretische Möglichkeit bleibt. Der Antichrist ist also der Stachel im Fleische der Christen und der Nichtchristen. Denn auch wenn man annimmt, die christliche Moral könne weiterbestehen, obwohl man auf ihren Urheber verzichtet hat, ist der Antichrist damit nicht aus der Welt geschafft. Genau dies nämlich ist es, was er selber tun wird.
Der Apostel Paulus behauptet im zweiten Brief an die Thessaloniker, vor der Erfüllung der Zeit müsse der Widersacher in Erscheinung treten,
"der sich über alles hinwegsetzt, was Gott heißt oder Gottesverehrung und schließlich sich selbst in den
Tempel Gottes setzt und vorgibt, er sei Gott" (2 Tess 2, 3-4).
Mit diesen Worten ist für den Christen Bedeutsames gesagt. Die Anerkennung des Antichrist wäre ihnen zufolge gleich der Anerkennung eines Menschen an der Stelle Gottes. Deshalb nimmt der Antichrist bei Paulus auch die sakrale Position im Tempel ein.
Hier zeigt sich, daß der Christ von dem Augenblick an, wo er die Gottheit Christi in Zweifel zu ziehen beginnt, gleichzeitig auch schon zum Gottesleugner schlechthin werden muß. Der persönliche Gottesbegriff ist innerhalb des Christentums ohne die göttliche Natur des Sohnes für den Vater nicht aufrechtzuerhalten. Deshalb schreibt der Evangelist Johannes in seinem ersten Brief, es sei ein Merkmal des Antichrist, daß er den Vater und den Sohn leugnet (1 Joh 2,22-23). Am Problem des Antichrist entzündet sich also die Entschei-dung für oder gegen Christus und damit unter dem Prinzip der Liebe die Entscheidung für oder gegen den persönlichen Gott.
Absurderweise, ich muß es noch einmal sagen, ist es in den bislang aufgeworfenen Fragestellungen ohne Belang, ob der Antichrist als eine bevorstehende Reali-tät, als eine Legende oder als überlebtes Bild aufgefaßt wird. Daß der Gedanke an ihn überhaupt existiert, daß er sich über zweitausend Jahre am Leben erhalten hat, reicht schon hin, um der Vorhersage seines Eintreffens eine halbe Wahrscheinlichkeit zuzumessen. Die andere Hälfte wird - wie bei jeder Prophezeiung - Glaubens-frage bleiben müssen. Doch wenn auch die Interpreta-tion der alten Texte von jeder nachfolgenden Epoche der Weltgeschichte auf neue Weise unternommen wird, bleibt ein unberührter Tatbestand: das Ende der Zeiten wird die endgültige Gestalt der Welt hervorbringen. Nach christlichem Glauben wird sie die Harmonie des Schöpfungsschicksals offenbaren und zwar in einem positiven Extrem. Demzufolge wird der Endphase des Weltgeschehens ein negatives Extrem vorhergehen müs-sen. So wird der Antichrist gerade durch seine Gottes-leugnung zum notwendigen Vorläufer dessen, den er bekämpft. Seine Herrschaft, ausschließlich auf irdischen Gedeih gerichtet, wird zum negativen Spiegelbild der ihr nachfolgenden positiven Wirklichkeit. Seine Grund-parole könnte lauten: ein wahrer, zum Sinn seiner selbst gekommener Mensch ist nur, wer nach den moralischen Grundsätzen des Christentums lebt, ohne an den per-sönlichen Gott zu glauben.
Wenngleich das Bild des Antichrist in den Aussagen der Schrift merkwürdig verschwommen ist, gehört er als Einleitung des Zeitenendes zum Bestand der Offen-barung. Aus dem Munde Christi haben wir - sofern man nicht, wie vielfach Mode, die Echtheit der Evange-lien selbst in Zweifel zieht -eine konkrete Vorhersage: es werde vor dem Weltende eine allgemeine Verfüh-rung zum Glaubensabfall eintreten. Warnend ruft Chri-stus aus:
"Wenn jemand zu euch sagt: siehe, hier ist der Mes-sias, siehe dort!, glaubt es nicht!" (Mt 24,23) Und wenig später fügt er an:
"in jenen Tagen wird sich die Sonne verfinstern, der Mond wird seinen Schein nicht mehr geben, die Sterne werden vom Himmel fallen und die Kräfte des Himmels
werden erschüttert werden" (Joh 29). Nach den Worten dieser Vorhersage wirkt also die an die Stelle Gottes tretende Selbstherrlichkeit der Menschheit zurück auf die Natur und erschüttert ihre Gesetze. Denn der Zu-sammenhang zwischen dem Menschen und der Welt nimmt seinen Weg nach christlicher Auffassung ebenso über den persönlichen Schöpfer wie der Zusammen-hang zwischen Mensch und Mensch. Entfernt man Gott aus dem Menschengeschlecht, dann wird nicht nur dieses, sondern mit ihm auch die Natur in ein Chaos gestürzt. Hieraus erhellt die Möglichkeit, ja die Wahr-scheinlichkeit, daß das Ende der zeitlichen Welt nicht wie eine schicksalshafte Katastrophe über die Mensch-heit hereinbrechen, sondern von dieser selbst hervorge-rufen wird.
So berührt der Antichrist schon in seiner Noch-nicht--Wirklichkeit die tiefsten Probleme der menschlichen Natur. Sein Bild faßt das Streben des Menschen nach totaler Unabhängigkeit zusammen, sein Charakter ist der eines negativen Erlösers: er soll die Menschheit aus dem Zwang des Geschaffenseins herausführen. Er ver-wirklicht den Weltfrieden und verlangt als Preis dafür den Verzicht auf die Unsterblichkeit der Seele und die Abschaffung der Persönlichkeit. Er benützt die Lehre Christi in ihren moralischen Konsequenzen zum Erweis einer gesitteten Gesellschaftsordnung, in der die Reli-gionen zum Kodex für richtiges Verhalten werden. Demzufolge lassen sich Judentum, Christentum, Islam, Buddhismus, Hinduismus ohne Mühe vereinen, da von jeder dieser Religionsformen der Verzicht auf die Defi-nition eines Gottesbegriffes verlangt wird - soweit sie - bisher einen solchen zur Voraussetzung hatten. Der Mensch wird in psychologischer Gleichschaltung zum ausschließlichen Gemeinschaftswesen und handelt dafür ein Maximum an irdischem Glück ein. Seine Freiheit verwandelt sich in das lustvolle Vergnügen, das er an der Verkehrung seiner Gefühle und am Chaos seiner Triebe finden darf, solange dadurch kein asoziales Ver-halten heraufbeschworen wird. Da die Wünsche der Menschen nach irdischer Wohlfahrt und geordneten Lebensverhältnissen voll erfüllt werden können, fällt die bisherige Bedeutung von Schönheit und Wahrheit in sich selbst zusammen. Denn der Mensch bedarf keines Trostes mehr, da er alles besitzt, was sein Wunschden-ken umfaßt.
Man kann sich natürlich die Frage stellen, ob Speku-lationen dieser Art überhaupt einen Sinn haben. Und man kann natürlich finden, der Antichrist sei einem völlig gleichgültig. Da aber das Christentum auch heute noch eine Welttatsache ist, da unsere ganze Zivilisation auf christlichen Voraussetzungen ruht, bleibt uns die Überlegung nicht erspart, was an die Stelle der Liebe treten würde, wenn man den Gott der Liebe aus der Welt entfernt.
II.
In der Religion des alten Babylon kämpft Marduk, der große Gott, mit dem Drachen des Chaos. In der Religion des alten Persien empört sich Ahriman, der Fürst der Finsternis, gegen Ormuzd, den Gott des Lich-tes. In der Religion der Juden entfacht Luzifer, der herr-lichste der Engel, einen Aufruhr gegen seinen Schöpfer. In allen drei Religionen siegt zunächst die Lichtseite - aber nach diesem Siege schwelt der Kampf durch den ganzen Verlauf der Zeit weiter, um an ihrem Ende noch einmal aufzulodern zur endgültigen Entscheidung. Eine der ältesten Ahnungen der Menschheit besagt, Gott müsse einen Widersacher haben, der erst beim Zusam-menbruch des Weltgebäudes ganz niedergerungen werden kann. Solange die Zeit währt, ist Gott der Ange-griffene, der sich zur Wehr setzen muß - und der Schauplatz dieser Auseinandersetzung ist weder der Himmel noch die Unterwelt, der Schauplatz ist die Erde, und der Preis ist der Mensch.
So verkörpert sich im Verlauf der Geschichte der ewige Widersacher Gottes in einer langen Kette zeitli-cher Gestalten von menschlichem Umriß. Für die vor-christlichen Juden war der König Antiochus IV. von Syrien, der Israel unterwarf und quälte, der personifi-zierte Böse. Für die Juden des ersten Jahrhunderts war der Erzfeind Jehovas der wahnsinnige Kaiser Caligula, der die Geheimorder erlassen hatte, über Nacht und unter der Form eines Wunders sein Standbild im Tempel von Jerusalem aufzustellen. Für die frühen Christen waren die kaiserlichen Statthalter in der Ausführung der Verfolgungsedikte Inkarnationen dämonischen Hasses gegen Christus. Und bis in unsere Tage herauf haben die kompromißlosen Verfechter des Glaubens an Gott sich mit der Tatsache abzufinden, daß ihre Über-zeugung ihnen Verfolgung und Gewalttat einbringt. Sie erinnern sich immer noch der Worte Christi in der Aussendungsrede an die Jünger, worin als einzig siche-res Erbe des Erlösers Drangsal, Marter und Tod voraus-gesagt werden. Da diese Weissagung in den ersten zwei Jahrtausenden des Christentums voll eingetroffen ist, darf es uns nicht wundernehmen, wenn wir schon in den Urzeugnissen des christlichen Glaubens eine Ge-stalt vorhergesagt finden, worin die Feindschaft gegen Gott ihre gewaltigste Ausprägung erfährt: den Anti-christ. Er wird ein Mensch sein, so wird uns gesagt (vgl. 2 Tess 2,3).
Das Reich des Bösen
Die Geheime Offenbarung des heiligen Johannes schildert ihn als Weltenherrscher, was die Kirchenväter veranlaßt hat, in ihm den Gipfel zusammengeballter politischer Macht zu sehen. Seine Verbindung zum Reich des Bösen ist ganz anderer Art als etwa die des Faust und Mephisto. Denn diese beiden schließen einen klaren Pakt. Der Mensch aber, dem es zugemessen ist, zum Antichrist auszureifen, hätte die Möglichkeit, ebenso-gut der größte denkbare Heilige zu werden. Indessen verfällt er der Verführung, die schon Adam zu Fall
gebracht hat. Die Verbindung Luzifers zum Antichri-sten lautet: Du wirst sein wie Gott (vgl. Gen 3,5).
Folgerichtig werden die Mittel, mit denen sich dieser rätselhafte Mensch zur Spitze der Menschheit empor-schwingen wird, die Maske des Guten tragen. Der Nächste wird um des Nächsten willen geliebt werden und nicht mehr um Gottes willen. Der allgemeine Glau-bensabfall wird nicht nur die Scheinchristen ergreifen, sondern die Kirchen selbst - und wenn diese erst ein-mal das soziale Element der christlichen Religion an die Stelle der Gotteskindschaft und der Erlösung gesetzt haben, werden Heerscharen tiefgläubiger, aber kritiklo-ser Menschen von Gott abfallen, ohne es überhaupt zu merken.
Von der Perspektive der sich höher entwickelnden Menschheit hergesehen, ist das Reich des Antichrist der Zustand äußerster irdischer Vollkommenheit.
Stellen wir uns die Welt einmal vor, wie sie dann sein könnte. Die Kriege haben aufgehört. Biologische, che-mische und psychologische Einwirkungen haben die dämonischen Anlagen des Menschen entschärft und durch Friedfertigkeit, Takt und Mitgefühl ersetzt. Ge-burtenkontrolle regelt den gleichbleibenden Bestand an menschlichen Lebewesen. Die Ernährung ist gesichert, da das Wetter nach vorbedachtem Plan gelenkt wird und im Notfall auch künstliche Nahrung in genügender Menge zur Verfügung steht. Die Sprachschwierigkeit wird überwunden durch eine Bilderschrift, die ohne den Gebrauch des Wortes jedermann auf dem Erdball verständlich ist, sodaß die Weltregierung der direkten Aufnahme ihrer Weisungen durch die Bevölkerung allerorten sicher sein kann. Die Beherrschung der voll-ständig ausgebildeten Mechanik der Zivilisation ver-langt Spezialisten, die durch eine umfassende Intelli-genz-Planung und vorgeburtliche Einwirkung stets ausreichend produziert werden. Die Menschheit ist zu einem Apparat geworden, der reibungslos funktioniert, weil jeder seiner Teile glücklich ist.
Über dieses wunderbare Reich herrscht ein Mensch, dem nur ein einziges Problem zu lösen übrig bleibt: die Ausmerzung des Fragens. Denn ein solcher Weltstaat kann nur existieren, wenn seine Bürger den Zweifel nicht kennen. An die Stelle von Frage und Antwort müssen Hinnahme und Hingabe treten. Denn die Frage ist das erste und letzte Zeichen menschlicher Freiheit - und diese ist im Staate des Antichristen nicht möglich. Wenn aber die Freiheit in diesem Staate keinen Boden findet, dann ist auch für Gott kein Platz, der am Anfang und am Ende alles menschlichen Fragens steht. Gleich-zeitig mit Gott und mit der Freiheit des Fragens müßte das Geschichtsbewußtsein entfallen. Alle Kunde von den Stationen des Entwicklungsweges, den die Mensch-heit bis zu ihrer irdischen Perfektion zurückgelegt hat, wäre von Schaden. Denn hierdurch würde offenbar, daß kein Wechselfall des Geschickes, keine Tragödie und keine Katastrophe ausreichen, den Menschen in seiner Substanz zu verändern, solange er seiner natürli-chen Bestimmung folgt und nicht durch künstliche Willkür in sie eingreift. Solange der Mensch sich selbst als ein unvollkommenes, auf dem Wege befindliches Wesen begreift, wird er sich mit dem Zustand mecha-nisch herbeigeführten Glückes nicht zufrieden geben.
Nichts aber könnte gefährlicher sein für den Weltstaat des Antichrist als das Weiterleben von Erfahrungen, die der Mensch aus einer Weltgeschichte mitgebracht hat, deren Baumeister er nicht selber gewesen ist.
Wann?
Hier zeigt sich, daß zum Beispiel der Zustand unse-rer Gegenwart, die wir überschauen können, von dem Weltstaat des Antichrist noch weit entfernt ist. Anderer-seits ist der Prozeß, den wir Weltgeschichte nennen, im Ablauf seiner Entwicklungsphasen nicht meßbar. Wir wissen also nicht, welche Ereignisketten noch eintreten müssen, bevor sich die Weltherrschaft des Antichrist realisieren kann. Wir wissen nur, daß in den wechseln-den Zuständen der Menschheit gewisse Sachverhalte verborgen sind, die die Vorbereitung der Herrschaft des Antichrist fördern. Und hierin werden wir bestätigt von einer Reihe biblischer Aussagen. Der heilige Johannes behauptet, der Antichrist sei "jetzt schon in der Welt" (vgl. 1 Joh 2,18) - und er meint die Symptome, die zu seiner Lebenszeit schon auf den Antichrist hinzuführen schienen. Parallel dazu ist des Apostel Paulus auf den Antichrist bezogenes Wort zu verstehen: "Das Geheim-nis des Bösen wirkt schon jetzt" (2 Tess 2,7). Wir erhalten aus der Schrift Kunde, der Antichrist habe Vorläufer. Verschwiegen aber wird uns, ob und auf welche Weise sie sich zu erkennen geben. Es kann sich dabei um einzelne Menschen, um Gruppen - aber auch um anonym hervorgerufene Strömungen handeln. Selbst für den Skeptiker kann der Antichrist ein Bild sein, worin sich die Verkehrung der natürlichen Werte im Leben der Menschheit niederschlägt. Also können als seine Vorläufer nicht nur Menschen, sondern auch gewisse seelische Prozesse gelten, die einer solchen Verkehrung Vorschub leisten. Natürlich kommt der Antichrist nicht ohne Christus aus - denn er muß ihn und somit den persönlichen Gott ja leugnen, um sich selbst an seine Stelle zu setzen. Folglich kann mit gewis-ser Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß die seelischen Prozesse innerhalb des Menschengeschlech-tes, die die Herrschaft des Antichrist vorbereiten helfen, dem Geiste des Christentums widersprechen, seine Wahrheit zu einer möglichen unter vielen herabmin-dern und das schöpfungsumspannende Prinzip der Liebe auf die natürlichen Funktionen des Menschen beschrän-ken. Das Neue Testament teilt uns vom Antichrist zwei hervorstechende Tatsachen mit: er werde ein großer Lästerer sein - und er werde die von ihm ins Werk gesetzte Verwüstung zum Gegenstand allgemeiner Ver-ehrung machen. Beide Voraussagen zeichnen in unsere Gegenwart erkennbare Spuren. Die Lästerung schlägt sich nieder im Vergnügen an der Schmähung des Heili-gen, also in der Blasphemie - die Lust an der Verwü-stung aber im absichtsvollen Verzicht auf Schönheit.
Die Lästerung
Was die Blasphemie betrifft, so haben wir es gar nicht leicht. Wir hören zum Beispiel in Dürrenmatts Schau-spiel "der Meteor" den Helden des Stückes die Behaup-tung aufstellen, das Leben sei "eine Schindluderei der
Natur sondergleichen, eine obszöne Verirrung des Koh-lenstoffes, eine bösartige Wucherung der Erdoberflä-che, ein unheilbarer Schorf' - und Unbehagen befällt uns, weil wir mit dem Leben uns selbst als Geschmähte fühlen. Dennoch ist das Gesagte keine Blasphemie. Be-leidigt wird ein "Es" - das Leben. Dieses ist zwar wirk-lich, aber anonym-und Anonymität gibt von vornher-ein einen Anlaß zur Nachsicht, weil - solange niemand persönlich betroffen wird - noch die grausigste Schmä-hung als Ansicht eines einzelnen gesellschaftsfähig sein kann. Uberdies fühlt man sich, solange es um "das Leben" geht, als Individuum nicht betroffen. Im Gegen-teil: man freut sich, daß endlich einmal einer ausspricht, wieviel das Leben durch die Bösartigkeit seines Verlau-fes dem einzelnen zu Unrecht vorenthält. Und es ist sehr befriedigend, den Würgegriff des absichtsvoll bösen Wortes auf etwas angewendet zu sehen, was einem selbst überlegen ist. Das Leben, das doch alles gewähren könnte, verweigert das Gewünschte - also ist es wert, beschimpft zu werden.
Indessen bleibt ein kleiner Zweifel. Wäre es nicht denkbar, daß der wilde Wortschwall, womit das Leben verunziert und ekelerregenden Bildern gleichgesetzt wird, nur versuchen wollte, das Eingeständnis mensch-licher Ohnmacht zu verbergen? Die Empörung des Menschen gegen ein Prinzip, das ihn daran hindert, allmächtig zu sein, schlägt sich nieder in der Schmä-hung. Diese allein ist aber noch keine Blasphemie. Das Leben, auch wenn es in Worten geschändet wird, bleibt ein Neutrum - und ein Neutrum hat keine Möglichkeit zur Reaktion. Das Leben rächt sich nicht an denen, die es lästern. Es sei denn, man nehme an, es habe ein Bewußt-sein, man setze voraus, die Schmähung könne gehört, aufgenommen und geahndet werden. Dies aber sind Fähigkeiten, die dem Leben, so vielfältig man es auch sehen möge, nicht zukommen. Das Leben ist für Blas-phemie nicht tauglich: denn diese kann sich nicht gegen ein Phänomen, nicht gegen einen Begriff, sondern nur gegen eine Person richten. Blasphemie ist nur möglich gegenüber Gott. Seine Ehre ist es, an der die Lästerung zur Wirkung kommt.
Auf den Antichrist und seine vorausgesagte Herr-schaft über die Welt bezogen, erfahren wir aus diesem Sachverhalt, daß er Gott, den er leugnet, nicht entbehren kann. Um Gott lästern zu können, muß man anerken-nen, daß es ihn gibt. Inder Lästerung selbst liegt das Ein-geständnis, so nahe an Gott zu sein, daß der gegen ihn aufgebrachte Haß ausreicht, ihn zu treffen. Dies alles zeigt, welch scharfer Unterscheidung es bedarf, um zu erkennen, wo das große Gottlosen-Reich am Ende der Weltgeschichte seine Marksteine in diesem unserem Leben errichtet.
In dem deutschen Trauerspiel "Die Plebejer proben den Aufstand" von Günther Grass, finden sich die fol-genden Verse:"Verwirrte Kinder beten eine Taube an: Komm, Heiliger Geist, kehr' bei uns ein. Komm, meine Taube, komm, Vernunft. Komm, Heiliger Geist, du erster Atheist, scheu keine Treppen, nimm den Noteingang, geh mich mit harten Requisiten an."
Lassen wir die Taube gleich beiseite. Die Verehrung des Heiligen Geistes in eine absichtsvolle Verwirrung des Kindergemüts zur Tauben-Anbetung zu verkehren, ist bewußte Verhöhnung, Fälschung eines bestimmten religiösen Verhaltens, aber immer noch keine Blasphe-mie. Ernst wird es erst bei den Worten: "Komm, Heiliger Geist, du erster Atheist". Hier wird Gott zum Leugner seiner selbst proklamiert. Das ist Lästerung. Keine be-deutende, wie man einräumen kann. Man ist sogar ge-neigt, ein solches Wort einfach als freche Formel abzu-tun, die man eher belächeln sollte als sich über sie zu empören. Bestehen bleibt indessen die Tatsache: Gott ist direkt gemeint. Und er ist entwürdigt zur personifizier-ten Lüge.
Jedermann weiß, daß eine große Zahl von Jugendli-chen der Lektüre von Büchern die Betrachtung von Comic-Stripes bei weitem vorziehen. Für diejenigen, die mit dem Begriff nichts anzufangen wissen, sei gesagt, daß es sich dabei um gezeichnete Bildgeschichten han-delt, deren Helden durch Spruchbänder kundtun, was sie bewegt. Eine dieser Geschichten hat zur Hauptfigur ein üppiges unbekleidetes Mädchen, ,Phöbe Zeitgeist' genannt, deren Schicksal sowohl vor als nach ihrem Tode abenteuerlich genug verläuft. Ein dramatischer Höhepunkt des Geschehens ist erreicht, wenn, Phöbe Zeitgeist' durch einen wahnsinnig gewordenen Rabbi-ner gekreuzigt wird und dessen Schmähungen ertragen muß. Hier ist der Tatbestand einer mehrschichtigen Lä-sterung gegeben. Blasphemisch ist allein schon die per-verse Verkehrung des Vorgangs der Kreuzigung, eben-so furchtbar aber ist die Rolle des Rabbiners, dessen verzerrte Gestalt im Unterbewußtsein der jugendlichen Leser ihre Spuren zurücklassen wird. Da Gott jeder-manns Privatsache geworden ist, fehlt - wie das Bei-spiel zeigt - unserer Öffentlichkeit längst das Empfin-den dafür, daß ihm Beleidigungen zugefügt werden können. Widerführe einem Menschen, was man bei Gott zu dulden bereit ist, alle Welt würde sich empören. So aber wird die Blasphemie kunstfertig geübt - auf dem Theater intellektueller Unabhängigkeit, im Schund-heft als sicheres Geschäft. Träte heute ein Mensch auf, der gleich dem Antichrist die Lästerung Gottes zu sei-nem hauptsächlichen Ziel machen würde, er erntete mehr Beifall für seinen Mut als Zorn über seinen Frevel. Denn es wird kein Versuch mehr unternommen - auch nicht von denen, die an Gott glauben - die ihm zuge-fügten Beleidigungen zu sühnen. Die Menschen haben sich daran gewöhnt, die Ehre des Ewigen dem Himmel allein zu überlassen.
Der Verzicht auf Schönheit
Ein ähnlicher Sachverhalt begegnet uns, wenn wir die Gegenwart auf ihre Beziehung zur Schönheit prü-fen. Hören wir ein kleines Stück aus dem Konzert für drei Orchester von Karlheinz Stockhausen, einem viel-beachteten Werk zeitgenössischer Musik.
Fachleute belehren uns, hinter diesen auf winzigste Zeiträume zusammengepreßten musikalischen Struk-turen verberge sich ein hochintellektuelles Spiel, dem der Eingeweihte bei geschärftem Ohr genußreich folgen könne. Ohne dies in Frage zu stellen, bleibt für den
unbefangenen Hörer zunächst nur übrig, sich mit dem phantastischen Gestrüpp unvereinter Klangformen abzufinden und dem Werke gegenüber Geduld aufzu-bringen. Die Verbindlichkeit zwischen der erklingen-den Musik und dem aufnahmebereiten Ohr ist preisge-geben. Was an solcher Kunst schon ist, erweist sich nur, wenn man die Partituren nachrechnet - also in einem Bereich, der jenseits der Töne liegt. Schönheit - wenn man darunter eine bestimmte Ausstrahlung von Har-monie auf den aufnehmenden Menschen versteht - Schönheit ist hier nicht mehr zu finden, sie ist auch nicht beabsichtigt, man hat auf sie verzichtet.
Nun muß man zugeben, daß kritische Überlegungen in der Regel ins Gleiten kommen, wenn das Wort Schön-heit auftaucht. Daß es Schönheit gibt, daß auch wir Heutigen fähig sind, sie zu empfinden, wird niemand leugnen. Was aber schön ist - im Gegensatz zu häßlich - das scheint von einer gewissen Ubereinkunft der menschlichen Gesellschaft abzuhängen. Es gibt bestimm-te Prinzipien in der Kunst, ohne die sie nicht existieren kann. So wird die Malerei immer die künstlerische Bewältigung der leeren Fläche durch Formen und Far-ben sein. Plastik wird der Körperlichkeit nicht entraten können und Musik nicht der Ordnung von Klängen im Ablauf der Zeit. Innerhalb dieser Grundvorgänge ist Schönheit möglich und zu allen Zeiten aufgefunden worden. Was aber für schön gehalten wird, unterliegt einer geschichtlichen Entwicklung. Immer wieder durch-brechen die Künstler im Fortschreiten ihres Schaffens-prozesses die Regeln, die die jeweilige Gegenwart in bezug auf Schönheit getroffen hat. So wird, was man heute als Mißklang verwirft, vielleicht schon in fünfzig Jahren zur Harmonie geworden und Träger eines neuen Schönheitsempfindens sein. Denn es scheint der Kunst bestimmt, dem Zeitalter, in dem sie entsteht, eine gewis-se Spanne vorauszueilen, ja geradezu den Niederschlag prophetischer Ahnungen zu bilden. Als Beweis dafür kann gelten, daß die Atomisierung des Gegenstandes in der Kunst ein halbes Jahrhundert früher einsetzte, als die Welt begriff, daß sie in das Zeitalter des Atoms eingetreten war. Wenn wir also in der gegenwärtigen Kunst den Verzicht auf Schönheit feststellen, so kann diese Wahrnehmung an unserem Unvermögen liegen, den künftigen Schönheitsbegriff darin zu erkennen. Anders verhält sich die Sache, wenn der Verzicht auf Schönheit wirklich beabsichtigt ist. Denn dann können wir schwerlich der Frage ausweichen, welche Zustände der Welt die Kunst vorherahnt, wenn sie die Schönheit aus ihrem Reiche absichtsvoll verbannt.
Bei der Betrachtung von Kunstwerken früherer Epochen uns selbst beobachtend, werden wir zugeben, daß uns zunächst ihr Gegenstand fasziniert. Wir wollen wissen, was wir sehen. Wir wollen den Vorgang erken-nen, den ein Kunstwerk repräsentiert. Darüber hinaus interessieren uns die Form, die Technik des Handwerks, die Merkmale des Stils - und aus diesen beiden Kom-ponenten formulieren wir unser Urteil über die Qualität des Werkes. Merkwürdig dabei ist, daß weder die Be-friedigung des Wissens noch das Fällen des Urteils mit Schönheit das Geringste zu tun haben. Schönheit hat nämlich keinen Ort, sie entsteht durch einen Kommuni-kationsvorgang, worin die Ausstrahlung des Kunst-
werkes mit einer besonderen Bereitschaft des Aufneh-menden zusammentreffen muß. Die Brücke für diesen intimen seelischen Vorgang bilden die Sinne: das Auge, der Tastsinn, das Ohr. Die Heimat der Schönheit ist nicht die Kunst, sondern das Leben.
Merkwürdigerweise bietet die Gegenwart kaum Phänomene, an denen sich erkennen ließe, wie es sich mit der Übereinkunft in bezug auf Schönheit heute verhält. Die Frage nach der Schönheit überhaupt scheint für unsere Tage kein tieferes Problem zu sein. Das hat mehrere Gründe. Zunächst können wir als erwiesen ansehen, daß sich das Verhältnis des Menschen zur Natur grundlegend verwandelt. Stadt und Land bilden keinen wesentlichen Gegensatz mehr, das Naturbedürf-nis des Städters findet sein Gegenspiel im Komfortbe-dürfnis des Landbewohners. Natur ist eine Art Ge-brauchsgegenstand geworden, dienlich sowohl zur Ernährung als auch zur Erholung, jedenfalls aber einem Zweck unterworfen. Natur um ihrer selbst willen ge-liebt zu sehen, ist kaum mehr möglich. Einem jungen Menschen unserer Tage, der zum ersten Male die Liebe erlebt, ist Goethes Vers: "wie herrlich leuchtet mir die Natur", ein gänzlich unangemessener Ausdruck für das, was ihn bewegt.
Die Randerscheinungen der Massengesellschaft, das Ameisenhafte unseres Alltages, das Phänomen der Verrottung, erzeugt durch fortgeworfene Relikte des Komforts, die Gasglocke über der Großstadt, das in Zement eingefangene Leben mit all seinen Abseitigkei-ten, die daraus entstehenden Grundgefühle von Angst und Ekel - dies bildet Anfang und Ende unserer gegenwärtigen poetischen Möglichkeiten. Sofern die Natur darin auftaucht, wird sie unter Kategorien gesehen, die diesem Milieu entspringen: Bedrohung, Furcht, Feind-schaft. Sofern von einer Blume nur zu sagen ist, sie sei schön, bleibt sie ein Gegenstand des Gebrauches. Kann jedoch an einer schönen Blume entdeckt werden, daß sie fleischfressend ist, wird sie geeignet, ein Gegenstand der Poesie zu sein. Wohl für das Denken, wohl für die Nützlichkeitsbedürfnisse des Menschen ist Natur von Wichtigkeit, aber nicht mehr für sein Empfinden.
Dies hängt zusammen mit der Ausbreitung des Bewußtseins, die Natur könne durch die Wissenschaft beherrscht werden. Damit ist die Unbefangenheit ge-genüber der Gesamterscheinung der Natur dahin. Was uns in der Jugendzeit noch als eine Art Wunder erschien - etwa der Bienenstaat - veranlaßt heute kaum mehr jemand, dahinter eine wirkende, planende, schöpferi-sche Kraft zu verehren, vor deren Macht und Phantasie der menschliche Geist sich beugt. Im allgemeinen Be-wußtsein der Gesellschaft ist der Mensch nicht mehr ein Teil der Natur, er versteht sich als ihr Herr. Das Wunder bleibt nur insoweit bestehen, als Phänomene noch nicht erklärt werden können. Da diese Gegenstand der For-schung sind, kann ihre Bloßlegung abgewartet werden. Mit der nötigen Geduld - davon ist man überzeugt - wird man jedes bisherige Wunder entschleiern. Die Schöpfung ist zu einem Gut geworden, das sich ausbeu-ten läßt. Um sich blickend; findet der Mensch - zu seiner Befriedigung - nichts Größeres mehr als sich selbst.Verlust der Freude
Folgerichtig sehen wir unsere Zeit mit einer totalen Erkundung des Menschen beschäftigt. Wenn immer große Massen in Bewegung geraten, bilden sich Füh-rungszentren. In unserem Falle heißen diese Großmäch-te Psychoanalyse und Sex. Verschwisterte Begriffe, sind sie Folgeerscheinungen des ungeheueren Versuches, den Menschen auf sich allein zu stellen. Auf ihrem Altar ist die Unbefangenheit geopfert worden, für die der Mensch die Kenntnis seiner Komplexe eingetauscht hat. Er weiß jetzt - oder er kann es sich zumindest sagen lassen - wo die kritischen Zonen seiner seelischen Mechanik liegen. Der Preis, den er für die Kenntnis seiner Defekte bezahlt, ist die Einbuße der Freude. Denn Freude setzt Unbefangenheit voraus, sie blüht nur, wenn Selbstvergessen noch kein Problem ist. Wo aber das Gift dauernder Selbstbeobachtung, fortgesetzter Selbsterklä-rung einen Menschen ergriffen hat, wird er zur zweck-freien und darum wahren Freude nur schwer gelangen können. An ihre Stelle tritt ein übersteigertes Bedürfnis nach Vergnügen. Dieses wiederum besteht aus zwei Phasen: der Erfüllung und dem ihr vorangegangenen Reiz. Und hier sind wir mit
Antworten:
- Irgendwo bei Carl Amery Odin 14.03.2007 10:26 (0)
- Re: eingeschickt BBouvier 13.03.2007 21:11 (4)
- Re: eingeschickt Malbork 14.03.2007 01:53 (3)
- Re: eingeschickt BBouvier 14.03.2007 12:38 (2)
- Re: Lesen, es lohnt sich! Alceste 14.03.2007 21:42 (1)
- Re: Lesen, es lohnt sich! BBouvier 14.03.2007 22:19 (0)