Lenormand (Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens)

Aus Schauungen, Visionen & Prophezeiungen

Von Will-Erich Peuckert.

Lenormand (1772–1843)

Marie-Anne Le Normand (* Alençon 27. 5. 1772; † Paris 25. 6. 1843) war die bekannteste Wahrsagerin der Revolution und ersten Kaiserzeit, 1809 wegen ihrer Stellung zu Josephine von dem ihr früher zugetanen Napoleon I. ausgewiesen, bis 1814 in Brüssel, nach Rückkehr der Bourbonen, denen sie sich sehr empfahl, wieder in Paris[1]. Kohut attestiert ihr Bildung und Erziehung[2]; in ihren Schriften aber wirkt sie unerträglich eitel und großsprecherisch[3], dabei durchaus ungebildet und mit allerlei angelesener Gelehrsamkeit aufgeputzt[4]. Daß sie mit vollem Bewußtsein schwindelt, geht daraus hervor, daß sie unmöglich chaldäisch gesprochen[5], Hieroglyphen gelesen haben kann[6], daß sie weder das Siegel des Großen Orients[7] noch die Manuskripte, von denen sie spricht, besessen haben kann. Das alles war auch wohl nur Draperie. Dagegen scheint sie an ihre Kartenlegerei selbst geglaubt zu haben[8]. Daß sie abergläubisch war[9], paßt zu ihr.
Als ihr geläufige mantische Künste nennt sie die Scyomantie (Orakel durch die Schatten)[10], Alectromantie[11], Captromantie[12], Capnomantie (Orakel aus dem aufsteigenden Rauch des Kamins)[13], Libanomantie[14], Lampadomantie (aus dem Flackern des Lichtes)[15], la science des nombres[16]; sie braucht das Buchorakel (Aufschlagen einer Stelle)[17] und weissagt aus Hieroglyphen[18]. Astrologie[19] und „wissenschaftliche Kabbala“, d.h. die Kunst mit Geistern zu verkehren[20], will sie beherrschen. Außerdem will sie die Beschwörungen kennen, welche von den Hexen gebraucht worden waren[21], und sie hat einen Pakt, der ihr die Herrschaft über die Geister des Hexensabbats[22], wie über den kleinen roten Mann (Teufel) gibt [22].
Vielleicht besaß sie somnambule Fähigkeiten[23]; sie sieht Dämonen[24] und Schutzengel[25] und hat recht häufig Besuche eines „Sylphen“ Ariel[26], der ihr befreundet ist und sie berät[27], auf ihren Ruf auch einmal als alter Mann erscheint[28] und ihr einen magischen Talisman schenkt[29]. Eine Belgierin will einen solchen Sylphen einmal von ihr als Geliebten erhalten[30]. Auch andere Geister erscheinen ihr, so Jezael, dem sie zum Dank ein Rauchopfer aus Lorbeer, Thymian und Salbei bringt[31]. Um Jupiter zu rufen, braucht sie eine schwarze Katze[32].
In ihrem Besitz ist nicht nur die Tinktur und das flüssige Gold[33], sondern auch eine Anzahl magischer Geräte: ein Talisman[34] mit Hieroglyphen beschrieben[35], durch den sie Verbindung mit den Elementargeistern[36] erlangt und verborgene Dinge erkennt[37]; eine ägyptische Tafel aus dem Tempel von Memphis[38], eine loupe oder lunette magique, mit der sie sieht, was geschieht[39], ein miroir ardent des Astrologen Luc Gauric [40], 33 bâtons grecs [40] und ein Zauberstab[40]. Als ihr bekannte magische Schriften nennt sie eine Rolle aus Palmblättern, chaldäisch beschrieben[41], ein altes Manuskript aus dem Turm von Granus[42], das liber mirabilis[43], (kabbalistische) Briefe Dargens[44], Picus von Mirandola[45], Don Pernetti (Kabbalist)[46] Bekkers bezauberte Welt [46], Nostradamus[47], Moult[48], Caesarius von Arles [48], Jean Belot (Choromant, Adept) [48], Porta [48], Cardan [48], Lavater[49], und sie kennt (den Namen) Paracelsus[50]. Von Zauberbüchern nennt und kennt sie die Clavicules de Salomon[51], le Grimoir[52], den aber einer ihrer Kunden als Losbuch einschätzt[53], ein Enchéridion in die Magie[54], den kleinen Albertus[55] und roten Drachen[56]. Wieviel davon ihr wirklich bekannt, wieviel nur Name gewesen ist, ist kaum zu sagen. Daß sie aus älterem Schrifttum schöpfte, ist aber in einem Falle sicher; die Prophetie über Europa in ihrem Buch vom Aachener Kongreß greift alte Weissagungen auf. Sie selbst bezeichnet als eines ihrer Vorbilder die Oracles sibyllins des Grégoire Jordan Vénitien 1622[57]. Sie selbst nennt sich Sibylle[58] und stellt sich neben die Sibylle von Cuma[59] und neben Propheten wie Müller[60], Matthias Laensberg aus Liége[61], einem Nachfolger der Basset und Nostradamus.
Ihre Kunst ist die Vorhersage, wofür sie schon als Kind begabt gewesen sein soll[62] und wovon sie scheinbar gute Proben[63] abgelegt hat. Sie behauptet, ihre Hauptwissenschaft sei la science des nombres, Astrologie und transzendente Mathematik[64], ihre Kunst sei Wissenschaft: l'avenir ne réside pas dans un jeu de cartes; je ne m'en sers que pour régler mes combinaisons mathématiques et scientifiques[65]. Ihr Kartenlegen[66], das sie auch in ein System zu bringen versucht[67], wird als grande cabale bezeichnet[68]. Außerdem liest sie aus den Handlinien[69], aus dem Kaffeesatz[70]. Ihre großen Prophetien, vor allem die politischer Art, werden von ihr als Träume dargestellt, oder als Visionen, die ihr Ariel bereitet[71]. Gerade hier wird man verhältnismäßige Ehrlichkeit vermuten dürfen, weil manches dafür spricht, daß sie „somnambul“ veranlagt war.
Als Kartenlegerin hat die Lenormand einen dauernden Ruf behalten. Anweisungen zum Kartenlegen gehen unter ihrem Namen[72]; Lenormandsche Wahrsagekarten werden in Schlesien auf Jahrmärkten feil geboten[73]. Sibyllinische Weissagungen der Seherin L. über die Zukunft der Jahre 1848 bis 1860 wurden 1848 verkauft[74]; sie gehen möglicherweise auf das Granusmanuskript zurück [43]. Wenn in okkultistischen Kreisen aber gesagt wird, die L. habe am meisten die proph. Rechnung mit Quersummen geübt[75], so weiß ich nicht, auf welchen Beleg sich das stützt.

  • Ich zitiere M.A. Le Normand Les souvenirs prophétiques d'une Sibylle 1814 = Sib.; dies. La Sibylle au congrès d'Aix-la-chapelle 1819 = Aachen; dies. Souvenirs de la Belgique = Belg.
  1. Kiesewetter Okkultismus 2, 406 ff.; Adolf Kohut in „Straßburger Post“ vom 19. IX. 1909.
  2. Ebd.
  3. Priesterin Apolls: Sib. 135; hat alles richtig prophezeit: Sib. 45 f. 49. 78. 167; lenkt die Kabinette Asiens: Sib. 44. 16. 128; magnetisiert ihre Wächter: Sib. 139 f.; vgl. auch ihre angebl. magischen Künste.
  4. Sib. 107.
  5. Ebd.
  6. Sib. 131; Belg. 39. 40.
  7. Sib. 152.
  8. Sib. 40 f. und öfters.
  9. Salz verschütten, Besteck in Kreuzform, drei Lichter bringen Unglück: Sib. 65; Holz rollt aus Feuer = Besuch: Sib. 94; Hunde heulen = böses Vorzeichen: Sib. 22; Krähen krächzen = Todvorzeichen, Eule = Verlust von Gütern: ebd.
  10. Sib. 15.
  11. Sib. 16. 167.
  12. Sib. 53.
  13. Sib. 102.
  14. Sib. 94.
  15. Sib. 60.
  16. Sib. 94.
  17. Sib. 135 f.
  18. Sib. 131 f.
  19. Sib. 20 f.
  20. Sib. 8; dort nennt sie auch eine cabale de 99 de Zoroastre.
  21. Sib. 107.
  22. 22,0 22,1 Sib. 135.
  23. Das möchte ich aus Sib. 1381 schließen.
  24. Sib. 98. 107. 119 f.
  25. Uriel, Abdiel, Ithuriel: Sib. 66.
  26. Sib. 185 f.; Belg. 34 f. 127. 312; Aachen 15 f. 71 ff. 208 f. 131.
  27. Sib. 3. 74 ff.
  28. Sib. 152 f.
  29. Sib. 147.
  30. Belg. 202.
  31. Sib. 95.
  32. Sib. 97.
  33. Sib. 26.
  34. Sib. 147.
  35. Aachen 225.
  36. Sib. 134.
  37. Sib. 134.
  38. Sib. 29.
  39. Sib. 59; Belg. 38. 127. 313; Aachen 22.
  40. 40,0 40,1 40,2 Sib. 8. 312.
  41. Sib. 9.
  42. Sib. 30.
  43. 43,0 43,1 Aachen 213 ff.
  44. Sib. 21.
  45. Sib. 111 f.
  46. 46,0 46,1 Sib. 112.
  47. Sib. 10 f. 112; Aachen 79.
  48. 48,0 48,1 48,2 48,3 48,4 Sib. 10.
  49. Sib. 8 f.
  50. Belg. 44.
  51. Sib. 10.
  52. Sib. 10.
  53. Sib. 106 f.
  54. Sib. 10; wohl das bei Charles Nisard Histoire des livres populaires 1864. 1, 148 beschriebene Enchiridion Leonis papae.
  55. Ebd.; vgl. Nisard 1, 141.
  56. Sib. 140.
  57. Aachen 302.
  58. Vgl. die Titel ihrer Schriften.
  59. Aachen 79.
  60. Aachen 121 ff. 147.
  61. Aachen 47 f.
  62. Kiesewetter Okkultismus 2, 406 f.
  63. Ebd. 407 ff.
  64. Sib. 128.
  65. Sib. 147.
  66. Sib. 8. 67. 69. 137 f. 172; Belg. 39. 40. 72. 202. 204; Aachen 43. 51. 164. 193. 199. 203 ff.; eine mathematische Operation: Belg. 39.
  67. Sib. 340 ff.
  68. Aachen 180 f.
  69. Sib. 22. 161; Belg. 35. 188; Aachen 179 f.
  70. Sib. 6. 138. 141. 310 f.; Belg. 41. 280 f.
  71. Sib. 74 ff. 166. 194 ff.; Aachen 53 f.; Belg. 232 ff.
  72. Z.B. Das Geheimnis des Kartenschlagens nach den Schriften des Albertus Magnus, Theophrastus, Paracelsus ... und besonders nach Mlle. Lenormand, Napoleons Kartenschlägerin. Herausgegeben von Johannes Trismegistus. Ulm 1846.
  73. Brieger Wochenblatt 1862 Nr. 1 S. 8; Aus der Heimat, Beilage z. Grünberger Wochenblatt 14. 4. 1929.
  74. Bunzlauer Sonntagblatt 1848, 636; Das Buch der Prophezeiungen und Weissagungen 18494, 136 ff.
  75. Zentralbl. f. Okkultism. 6, 579.

Lenormand (1913)

Mme. Lenormand, Kartenschlägerin, die 1913 prophezeite: Nous aurons d'ici peu une guerre européenne declarée par l'Allemagne et ce sera l'anéantissement de cette dernière. Nous reprendrons l'Alsace et la Lorraine. Guillaume verra son étoile pâlir et mourra misérablement, abandonné de tout et de tous. Il assistera au triomphe de la France. La guerre sera de courte durée.

  • Gabriel Langlois Les prophéties relatives à la guerre de 1914/15. Paris 1915, 33.