Vom Niedergang der Kunst

Lost Centuries, Montag, 15.02.2021, 15:20 vor 1138 Tagen

Eine Anmerkung im voraus: In meinem Traum taucht das spanische Adjektiv "virguero" auf. Ich habe fast ein ganzes Jahrzehnt in einem lateinamerikanischen Land gelebt, dort studiert und danach für eine staatliche Bildungseinrichtung gearbeitet. Spanisch wurde in dieser Zeit zu meiner zweiten "Muttersprache". Ich hatte jedoch niemals von diesem Begriff gehört oder gelesen. Im Traum ist er mir zum ersten mal in meinem Leben begegnet. Ich konnte nichts mit ihm anfangen, weder im Traum noch nach dem Aufwachen. Ein Blick ins Wörterbuch verriet mir dann, was er bedeutet: "toll", "klasse", "außergewöhnlich". Er ist umgangssprachlich. Witzigerweise ist der Begriff im Traum falsch geschrieben gewesen: "birguero". Wer die Sprache kennt, weiß, dass man in Spanisch "v" genauso ausspricht wie "b". Der Schreibfehler ist verzeihlich, das Wort wurde im Traum ja auch von einem kleinen Kind geschrieben. Vom Anfang des Traums habe ich nicht mehr so viel in Erinnerung, vom zweiten Teil dafür umso mehr.

Ich stehe am Rand eines grasbewachsenen Hügels, auf dessen Höhe sich ein Gebäude befindet, das fast genauso aussieht wie das "Haus der Wissenschaft" aus einem früheren Traum. Es ist jedoch ziemlich weit entfernt von meinem Standort. Ein sonniger, angenehmer Sommertag. Am Fuße des Hügels ist eine Straße. Entlang dieser Straße sind in Kopfhöhe Schnüre oder Seile an Masten aufgespannt, an denen zahllose bunte, fröhliche Kinderzeichnungen aufgehängt sind. Wie Wimpel flattern sie im warmen Sommerwind. Ich erinnere mich nicht mehr genau, bin mir aber ziemlich sicher, dass es sich um eine Art Wohltätigkeitsveranstaltung gehandelt hat. Die bunten Kinderzeichnungen werden zum Verkauf angeboten, das Geld kommt einem wohltätigen Zweck zugute. Doch niemand scheint sich für die Kinderzeichnungen zu interessieren, denn die Leute laufen einfach an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten oder sie sich anzuschauen. Schließlich kommen nach einiger Zeit Männer in Arbeitsanzügen, reissen mit Gewalt die Zeichnungen herunter und stopfen sie achtlos in große blaue Müllsäcke.

Eine der Zeichnungen macht sich jedoch selbständig, wird vom Wind in die Höhe gewirbelt und bleibt schließlich vor meinem Füßen auf dem Boden liegen. Ich hebe sie auf und schaue sie mir an. Es ist ein etwa DIN A4 großes Blatt Papier. Die unteren zwei Ecken wurden umgeknickt und festgeklebt, so dass es wie ein Wimpel aussieht. Ein kleiner Junge hatte mit Kinderschrift "Los gatos birgueros" ("die tollen Katzen") daraufgeschrieben. Darunter ist eine unbeholfen wirkende, aber mit viel Liebe und kindlicher Hingabe angefertigte, bunte Zeichnung meiner Katzen. Die Zeichnung berührt mich zutiefst, bis ins Innerste meines Herzens. Ich halte sie eine Zeit lang in meinen Händen und schaue sie lange an.

Szenenwechsel. Ich befinde mich an einem Strand irgendwo in Spanien, in einem großen orangefarbenen Zelt, in dem sich mehrere lange Tische befinden. Auf dem sandigen Boden stehen Holzkisten. Mein Bruder öffnet sie und fördert ihren Inhalt ans Tageslicht. Es handelt sich um Kunstwerke. Vorsichtig, behutsam und voller Ehrfurcht stellt er ein Kunstwerk nach dem anderen auf die Tische. Doch was sind das nur für "Kunstwerke"! Ungläubig nehme ich eines in die Hand und starre es an. Das "Kunstwerk" besteht aus mehreren kleinen, fingerlangen Holzstückchen, die das Meer an den Strand gespült hatte. Das Holz war vom Wasser glattgerieben. Mit Draht waren die Holzstücke behelfsmäßig aneinander befestigt, an manchen Stellen waren kleine viereckige weiße Stofffetzen angebracht. Alle "Kunstwerke" auf den Tischen bestanden aus solchen wirren Konstruktionen. Ich denke nur: "Wer kauft so etwas? Und was sollen wir bloß dafür verlangen?"

Ratlos nehme ich einige dieser "Kunstwerke" in meine Hände und verlasse das Zelt. In einigen Metern Entfernung liegt ein alter Mann in Shorts auf einem Liegestuhl und döst im Schatten eines Sonnenschirms vor sich hin. Er hat kurze weiße Haare und einen weißen Stoppelbart. Neben ihm steht eine Flasche Wein im Sand. Ich gehe auf ihn zu und halte ihm seine "Kunstwerke" entgegen. Dann frage ich: "Meister, welchen Preis sollen wir für Eure Kunstwerke verlangen?" Doch der alte Mann schaut nicht einmal an, was ich ihm zeige, sondern dreht gelangweilt den Kopf zur Seite und blickt demonstrativ in eine andere Richtung. Mit einer verächtlichen Handbewegung in meine Richtung sagt er nur: "Das sind meine frühen Werke. Etwas Kohle ist das Maximum, mehr ist nicht drin."

Ich kehre mit den Installationen zuück zum Zelt und trete ein. Mein Bruder ist gerade an einem Waffeleisen damit beschäftigt, Waffeln zu backen. Sie haben die Form des chinesischen Yin-Yang-Symbols. Er will die Yin-Yang-Waffeln zusammen mit den Kunstwerken verkaufen, um mehr Geld in die Kasse fließen zu lassen, die neben dem Waffeleisen steht. Ich denke, dass das eine gute Idee ist. Dann teile ich ihm die schlechte Nachricht mit, dass wir wohl nicht viel Geld für die Kunstwerke verlangen können. Nach einigem Nachdenken sagt mein Bruder: "Die Werke TOTER Künstler sind wertvoller." Dann nimmt er einige Installationen und gruppiert sie geschickt um eine Todesanzeige des Künstlers, die er in die Mitte eines Tisches legt. "Es reicht schon, das GERÜCHT zu verbreiten, der Künstler sei gestorben", fügt er hinzu. Auf einmal überkommt mich eine Welle von Verachtung für den "Künstler" und ich denke, warum wir uns eigentlich nur mit dem Gerücht zufriedengeben sollen. Und ich verspüre plötzlich eine morbide Freude bei dem Gedanken, hinauszugehen und den alten Mann mit meinen eigenen Händen umzubringen. Doch dann wird mir klar, dass sich der Gang nach draußen nicht lohnt. Die Todesanzeige ist echt, der Künstler ist tot.