Das Haus der Wissenschaft

Lost Centuries, Montag, 15.02.2021, 15:13 vor 1138 Tagen

Ich stehe auf einem Gelände mit Rasen und Steinen, die verteilt zwischen dem Gras liegen. Es ist mittag, die Sonne scheint leuchtend hell von einem strahlend blauen Himmel. Rechts von mir steht ein etwa zwei Meter hoher Zaun aus Metallgitter, dahinter eine Straße. Links von mir, in vielleicht zehn, zwanzig Meter Abstand, befindet sich ein modernes, flaches Gebäude mit großen Fenstern, durch die man ins Innere blicken kann. Ich sehe dort große, weite, modern ausgestattete Räume, in denen Menschen geschäftig hin- und herlaufen und ihrer Arbeit nachgehen. Die Räume sind hell erleuchtet, auch durch die weiten Fenster fällt viel Licht ins innere, so dass ich alles gut sehen kann. Obwohl es nirgendwo steht, weiß ich, dass es sich um eine wissenschaftliche Einrichtung handelt, eine Art "Haus der Wissenschaft".

In meiner rechten Hand halte ich einen Geologenhammer. Ich bin auf der Suche nach rotem Sandstein, aus irgendeinem Grund ist er mir sehr wichtig, es ist "mein" Sandstein, ich spüre, dass er eine große Bedeutung für mich hat. Ich will eine Probe des Gesteins nehmen, um sie mittels Isotopenanalyse auf ihr Alter hin zu untersuchen, daran erinnere ich mich noch sehr gut. Dabei spielt auch das Gebäude zu meiner Linken eine wichtige Rolle, denn dort soll die Untersuchung stattfinden.

Ich bücke mich und hebe einige Steine um mich herum auf. Sie sind aus Gneis, Quarz, Granit und anderen Materialien, doch keiner ist aus rotem Sandstein. Dann beginne ich langsam an dem Gebäude vorbeizulaufen. Doch so sehr ich mich auch umschaue, nirgendwo ist roter Sandstein. Plötzlich komme ich an eine Art Böschung oder Hang. Er ist nicht viel höher als ich. Es scheint, als ob hier Erdreich nach unten abgerutscht sei oder weggebaggert worden war. Jedenfalls wurde der Hang freigelegt und gibt den Blick frei auf das Gestein unter dem Erdreich. Ich bleibe stehen und schaue mir den Hang genauer an. Er besteht aus vielen unterschiedlichen unregelmäßig verlaufenden horizontalen Gesteinsschichten, manche sind dicker, andere ganz dünn, es gibt helle hohe Schichten und schmale schwarze. Jede Schicht beschreibt ein Erdzeitalter, eine geschichtliche Epoche, der Hang ist wie ein aufgeschlagenes Geschichtsbuch. Ich blicke auf die vielen verschiedenen Schichten und staune über deren Vielfalt. Es gibt Schichten aus hellgrauem Granit, aus Bändergneis, manche sind schwarz wie Kohle, andere ganz hell, fast weiß, vielleicht Quarz. Nach unten hin scheinen die Schichten kein Ende zu nehmen. Doch so sehr ich auch suche, "meine" Schicht aus rotem Sandstein finde ich nicht.

Plötzlich entdecke ich sie. Es ist eine Schicht fast ganz oben, auffällig dunkelrot gefärbt, die einzige Schicht in dieser Farbe im ganzen Hang. An der Schicht entlang verläuft ein schmaler, deutlich erkennbarer gelber Signalstreifen, so als hätte jemand das Gestein mit einem Pinselstrich farbig markiert. Die rote Sandsteinschicht ist sehr dünn im Vergleich zu der Schicht unter ihr, vielleicht ein oder zwei cm hoch. Sie liegt direkt auf einer hohen, hellgrauen Gesteinsschicht aus hartem, festem Granit. Sie ist ein Vielfaches dicker als der rote Sandstein. Ich sehe die gelbe Linie und denke: Da sind wir, das ist "meine" Schicht. Über der roten Schicht sehe ich einen schwarzen Streifen, wie verbrannt. Er ist sehr unregelmäßig, seine Höhe ist nicht genau feststellbar. An manchen Stellen ist er breiter, an anderen Stellen dünner. Teilweise ist das schwarze Band noch von Erdreich bedeckt, darüber wächst dann Gras. Ich begreife, dass die Schichten über "meiner" Sandsteinschicht erst im Werden sind, sie formen sich gerade und sind noch nicht fertig ausgebildet, im Gegensatz zur roten Sandsteinschicht.

Jetzt möchte ich eine Gesteinsprobe entnehmen und lockere mit meinen Fingern vorsichtig einen Brocken dunkelroten Sandsteins aus dem Hang. Ein schmales, längliches Stück, das der Länge nach mit der gelben Linie bemalt ist, fällt mir in die Hand. Doch zu meiner Enttäuschung bricht das Gestein in zwei Hälften auseinander, sobald ich es berühre, es zerbröckelt und zerbröselt zu rotem Sand, ich spüre, wie er zwischen meinen Fingern langsam zu Boden rinnt. Vorsichtig lege ich das restliche Sandsteinstück wieder an seine Stelle im Hang zurück. Ich denke, dass ich mit diesem Gestein keine Untersuchung durchführen kann, das Gestein ist viel zu weich und zu schwach, es taugt nichts. Da ist nichts Dauerhaftes, nichts Beständiges oder Festes dabei. Die ganze Schicht ist aus diesem roten, bröckeligen Sandstein zusammengesetzt, überall sind Risse.

In diesem Augenblick wird es schlagartig dunkel um mich. Ich blicke zum Himmel und sehe einen tief dunkelroten Sonnenuntergang am Horizont, die Sonne ist schon fast verschwunden, der Himmel ist blutrot gefärbt. Dämmerung umgibt mich, es wird dunkel und ich kann kaum noch meine Umgebung wahrnehmen. Der Zaun zu meiner rechten ist weg und befindet sich jetzt plötzlich links von mir, zwischen mir und dem "Haus der Wissenschaft". Direkt neben mir befindet sich im Metallzaun eine große, mächtige Tür, doch sie ist verschlossen mit einem schweren Vorhängeschloss ohne Schlüssel. Auch das Gebäude selbst ist in tiefes Dunkel getaucht, nirgendwo brennt mehr Licht, niemand ist zu sehen. Es scheint jetzt menschenleer zu sein.

Im Dunkel der Abenddämmerung stolpere ich weiter, den Zaun entlang, auch wenn ich jetzt nicht mehr viel sehen kann. Unter einem Vorsprung, an einer geschützten Stelle, sehe ich im fahlen Licht der Dämmerung viele Steine auf dem Boden liegen, darunter auch einen faustgroßen Brocken roten Sandsteins, er ist der einzige. Ich bücke mich, nehme ihn in die Hand und schlage mit dem Hammer ein Stück von ihm ab. Das Bruchstück ist klein, vielleicht gerade daumennagelgroß, doch es fühlt sich hart und fest und spitz in meiner Hand an. Ich denke: So, jetzt habe ich doch noch eine Gesteinsprobe von "meinem" roten Sandstein gefunden. Auch wenn sie winzig ist, so kann ich sie dennoch mitnehmen und untersuchen.

Mit einem Schlag ist es wieder hell, die Sonne strahlt vom Himmel, es ist wieder Tag, auch der Zaun steht wieder an seiner ursprünglichen Stelle. Im Gebäude neben mir emsige Geschäftigkeit. Ich blinzle in die Sonne, dann drehe ich mich um. Ein junger Mann kommt mir entgegen. Als er mich erreicht, sage ich zu ihm, dass ich mir Sorgen gemacht habe, weil ich dachte, das Gebäude sei geschlossen worden. Doch er lacht nur, legt seinen Arm um meine Schultern, um mich zu beruhigen, und sagt dann, dass ich mir keine Sorgen machen müsse, denn in diesem Haus werde es immer Menschen geben. Auf einmal fühle ich mich unglaublich ruhig und zufrieden. Dieses Gefühl von Ruhe und Zuversicht, das ich bei seinen Worten verspürt hatte, hat mich dann nach dem Aufwachen noch durch den ganzen folgenden Tag getragen.