Deutschland, zuvor

Lost Centuries, Donnerstag, 07.01.2021, 19:12 vor 1203 Tagen

1. Die obszöne Prozession

Ich stehe auf einem Gelände, das nach vorne hin leicht abfällt. Es ist weder Tag noch Nacht, eher leicht dämmrig, so als ob der Tag allmählich zuende geht. Zuerst schaue ich nur den Boden um mich herum an, er ist mit grobem, dunklem Sand und Kies und kleinen Steinen bedeckt, es wächst nur spärliche Vegetation auf dem unfruchtbaren, kargen Untergrund, etwas Gras, einige verkümmerte, niedrige Büsche fast ohne Blätter. Vielleicht ist es Herbst. Alles wirkt öde und trist und sehr farblos und ohne Leben. Eine seltsame, bleierne Stille lastet über allem.

Ich hebe leicht meinen Kopf, so dass ich weiter in die Ferne schauen kann. jetzt sehe ich dass ich mich in einer Art Küstenlandschaft befinde: vielleicht ein Kilometer vor mir sehe ich ein Ufer und Wasser. Das Gelände fällt leicht nach vorne ab, bis es auf das Wasser trifft. Es gibt keinen Strand oder andersartigen Übergang, das öde und karge Gelände erstreckt sich gleichförmig direkt bis zum Wasser.

Vor dem Wasser, noch weit von mir entfernt, verläuft eine asphaltierte Straße. Sie verläuft nicht gerade, sondern macht Kurven und schlängelt sich auf merkwürdige Art durch die Landschaft. Auf dieser Straße fährt langsam, von rechts kommend und nach links fahrend, ein großer, langer Amischlitten ohne Dach. Er ist leuchtend rosafarben lackiert und hat einen großen Innenraum mit mehreren Sitzen. In dem Wagen befinden sich einige Gestalten, es sind Männer, die jedoch auf groteske Weise gekleidet sind: Sie tragen rosafarbene Frauenkleider, einige tragen knallig rosafarbene Röcke, seltsame bunte Hüte, einer hat eine überdimensionale rosarote Federboa um seinen Hals gewickelt, deren Ende er kokett in der Luft umherschwingt. Sie lachen laut und verhalten sich provozierend und aufreizend. Sie sitzen um eine große schwarze Urne herum. Der ganze Anblick wirkt unglaublich abstoßend auf mich, das Auto mit seinen Insassen widert mich einfach nur an und verursacht mir unbeschreiblichen Ekel.

Denn trotz des Lachens und des Verhaltens der Männer wirkt die Szene auf seltsame Art künstlich und seelenlos. Bei der Prozession handelt es sich nämlich nicht um den Ausdruck ungezügelter Lebensfreude, das Lachen und das aufreizende Verhalten der Männer wirken stattdessen aufgesetzt, gekünstelt, geradezu zynisch. Alles wirkt falsch und geheuchelt, alles nur Plastik und Lack und billige Fassade. Ich frage einen Mann, der neben mir steht, was die Leute im Auto da machen, und er antwortet mir, dass sie die Asche von Adolf Hitler anbeten (eine Anspielung auf meinen Lieblingsspruch: "Tradition ist die Weitergabe des Feuers, nicht die Anbetung der Asche." Für mich persönlich steht die Person Adolf Hitlers für die Figur des großen Verführers, des Meisters von Schein und Fassade, hinter der sich nur innere geistige Leere verbirgt).

Um es noch einmal klarzustellen: Es ist nicht so, dass diese Szene auf mich abstoßend wirken würde, weil es sich vielleicht um Homosexuelle handeln könnte. Ich selbst habe in meinem Freundeskreis Homosexuelle, und ich habe überhaupt kein Problem mit deren sexueller Neigung, es sind ganz normale Menschen, und wenn man nicht wüsste, dass sie so gepolt sind, würde es ihnen auch niemand anmerken. Genau das ist es ja: Mit Homosexualität hat das Verhalten der Männer im rosa Cadillac nämlich gar nichts zu tun. Es wirkt eher wie eine Art Machtdemonstration, eine absichtliche Pervertierung all dessen, was mir wichtig und richtig erscheint, es ist ein zutiefst obszönes Schauspiel, das der Verhöhnung und Verspottung des Lebens an sich dient, eine Zurschaustellung von Verachtung. Und ich spüre das alles, was in den Männern in Wirklichkeit vorgeht, und deshalb widert es mich an.

Und dann hebe ich meinen Kopf ein kleines Stück weiter an, und mein Blick fällt auf einen schmalen Randstreifen im Wasser. Und dort sehe ich seltsame transparente Würfel, in die man hineinblicken und durch die man hindurchschauen kann. Und in jedem dieser Würfel befindet sich schemenhaft eine Person, nur schattenhaft erkennbar, und ansonsten sind diese Würfel innen weitgehend leer, bis auf einen Tisch oder einen Stuhl. Die Würfel sind jedoch seltsam geformt, sie haben nur abgerundete Ecken und Kanten, an ihnen ist nichts Spitzes oder Kantiges (auch hier kommt wieder einer meiner Lieblingssprüche zur Geltung: Als Mensch muss man auch Ecken und Kanten haben, an denen sich andere auch mal reiben dürfen.). Und diese "Personen-Würfel" treiben seltsam ziellos auf dem Wasser umher, sie sind nicht festgebunden, sondern schaukeln unstet und ohne Halt auf den Wellen hin und her. Mal stoßen sie zusammen, dann trennen sie sich wieder. Und obwohl diese Szene so weit weg ist, höre ich das Plätschern der Wellen und wie die Würfel dumpf gegeneinander bollern.

Und schließlich blicke ich über das Wasser, das seltsam träge und schwer wirkt, direkt zum Horizont. Und was ich da sehe, lässt mich erschauern und frösteln, und ich verspüre eine starke Unruhe, jedoch keine Angst als solche: Eine gewaltige graue Wand bedeckt den ganzen Himmel am Horizont, furchteinflößende, gigantische Wolken weißer aufbrausender wie irr umherschäumender tosender Gischt vor sich hertreibend. Und ich spüre diese gewaltige Kraft, die in und hinter dieser Mauer aus Wasser verborgen ist, das Toben und Rasen urzeitlicher Kräfte der Natur, entfesseltes Leben, das sich Bahn bricht. Und ich verspüre Mitleid mit all diesen Personen, eingeschlossen in ihren fenster- und türlosen durchsichtigen Würfeln, weil ich plötzlich weiß, dass sie alle von dieser heranrasenden gewaltigen Kraft einfach weggespült werden, dass sie keine Chance haben werden. Doch diese Wand ist noch weit entfernt, und außer mir scheint sie niemand wahrzunehmen.